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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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in einer Sekunde.
    Und Jakob Formann hätte sich noch an viel mehr erinnert, wenn in der zweiten Sekunde, nachdem er den mit Schokolade gefüllten Mund des erstarrten Franz Arnusch erblickt hatte, dieser ihm nicht heiser stöhnend entgegengestürzt wäre mit irrem Ausdruck im Gesicht. Jakob wich zur Seite. Wie eine Gewehrkugel schoß der Franzl den Gang des nun sehr schnell fahrenden, manchmal ruckenden Schlafwagenwaggons hinab und war verschwunden. Jakob sah ihm kopfschüttelnd nach, dann trat er in das Abteil und setzte sich seinerseits auf das Unterbett. Es wird schon was passieren, dachte er ohne Erregung, wie es seinem bereits mehrfach erwähnten Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt entsprach. Danach wurde er sogar ein wenig philosophisch. Das Ergebnis seiner Bemühungen auf diesem Gebiet läßt sich etwa in diese Worte kleiden: Manche Menschen sorgen dafür, daß etwas geschieht; manche Menschen sorgen dafür, daß nichts geschieht; manche Menschen sehen zu, wie etwas geschieht; und die überwältigende Mehrheit der Menschen hat keine Ahnung, was überhaupt geschehen ist. Zu der überwältigenden Mehrheit gehöre auch ich.
    Was ist jetzt mit dem Franzl los? Hat er platterdings den Verstand verloren? Ist er imstande und stürzt sich bedenkenlos aus dem dahinrasenden ›Orient-Expreß‹ in den eisigen Schneesturm hinaus? Ich hänge doch sehr an ihm und habe ihn immer sehr bewundert. Weil er so gescheit ist. Er wird schon nicht. Aber wo ist er hin? Na, wir werden ja sehen …
    Jakob lehnte sich im Unterbett zurück und gedachte wieder der Vergangenheit. Seine Erinnerungen waren das, was man dreißig Jahre später ›nostalgisch‹ nennen würde …
    Damals, im November 1945 zu Wien, hatte sich der reiche Franzl des armen Jakob angenommen und ihm ein Zimmer in der großen schönen Villa, in welcher es nachts oft viel Krach gab (die Katzen!), zur Verfügung gestellt. Durch seine Beziehungen zu den Alliierten (der Franzl hatte zu allen Menschen Beziehungen!) wurde Jakob Dolmetscher in der Military Police Station an der Ecke Martinstraße und Währingerstraße. Auf dieser MP -Wache lernte er die Herren George Misaras, Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg kennen. Hier wurden sie Freunde. Drei Monate später erhielten sie den Auftrag, nach Pötzleinsdorf zu fahren und den Franzl Arnusch auf Antrag der Wiener Staatsanwaltschaft zu verhaften. Er hatte es ein bißchen übertrieben.
    Wahrlich keine angenehme Aufgabe für Jakob!
    Er sagte es dem Franzl auch, als sie kamen, um ihn abzuholen. Da wieder eine Katzenparty im Schwange war, hatte der Franzl nur einen kleinen roten Slip an. Er bat, sich ankleiden zu dürfen. Die Bitte wurde ihm gewährt. Als sie dann mit ihm und Jakob auf dem Rücksitz des Jeeps und mit Mojshe am Steuer zum Untersuchungsgefängnis des Landesgerichts in der Lastenstraße (das ›Graue Haus‹ geheißen) rasten, stammelte Jakob unentwegt Entschuldigungen. Es war ihm wirklich scheußlich zumute! Ausgerechnet seinen Wohltäter brachte er jetzt hinter Gitter.
    Franz Arnusch strich Jakob über das Haar, sprach tröstend auf den Gebrochenen ein, sagte, derselbe dürfe weiter in der Villa leben – jedenfalls in dem einen Zimmer, alles andere würde ja jetzt wohl abgeholt oder versiegelt werden –, und sprach mit Würde: »Der Gerechte muß viel leiden. Aber der Herr hilft ihm.« Wunderbarerweise wußte Franzl sogar die Bibelstelle, denn salbungsvoll schloß er: »Vierunddreißigster Psalm, Vers zwanzig.«

24
    »Jakob! He, Jakob, wach auf!«
    Unser Freund fuhr empor. Jemand rüttelte ihn am Arm und watschte ihn sanft ab. Er schlug die Augen auf. Über ihn geneigt stand, verschmierte Schokolade um die bläulichen Lippen, der Franzl Arnusch.
    »Was ist? Wer hat …?« Jakob brauchte einige Zeit, um zu sich zu kommen.
    »Warum bist du wie ein Irrer weggestürzt, als du mich gesehen hast?«
    Der Franz Arnusch sagte nur: »Komm mit!«
    »Wohin?«
    »Zum Boß. Er will dich sehen. Unbedingt.«
    »Ich gehe jetzt schlafen. Dein Boß hat wohl nicht alle!«
    »Jakob, das ist ein Befehl!«
    »Für wen ein Befehl?«
    »Für mich! Ich habe den Befehl, dich zum Boß zu bringen!«
    Leise wiegend jagte der Zug nun dahin, durch den Sturm, die Nacht, den Schnee.
    »Dein Boß kann mich mal … Ich laß mir nix befehlen! Ich weiß ja überhaupt nicht, wer das ist!«
    »Jakob, du bist erledigt, wenn du nicht kommst!«
    »Schon gut, Burschi. Geh zur Seite. Ich will mich ausziehen.«
    »Herrgott, Jakob, verstehst du

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