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Hurra, wir leben noch

Hurra, wir leben noch

Titel: Hurra, wir leben noch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johannes Mario Simmel
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zeugende Formulierung der Megaphonstimme aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer glitten über die Steilhänge, immer weiter.
    Tut mir leid, meine Herren, dachte Jakob traurig. Ich kann Ihnen nicht helfen. Stimme habe ich keine mehr. Zum Zeichengeben bin ich zu schwach. Tot bin ich noch nicht, vielleicht werde ich es bald sein. Mein Hintern ist schon angefroren. Wie lange wird es dauern, bis die Große Kälte meinen Kopf erreicht? Was nützen mir meine Millionen, wenn ich nicht einmal mehr »Hilfe« flüstern kann?
    In New York und Tokio, in Moskau und Neu-Delhi, Stockholm und Hamburg, so dachte er benommen und immer benommener, habe ich in der letzten Zeit immer wieder vom Leistungsknick reden gehört, von einer Krise zwischen vierzig und fünfzig. Immer nur gelacht habe ich darüber. Ein sehr dummes Lachen ist das wohl gewesen …
    »Hallo! Hallo!«
    Ausgerechnet jetzt, dachte er erbittert.
    Ausgerechnet jetzt muß mir dieses Gedicht einfallen – Gesang heißt das, Trottel! – dieser Gesang, den meine geliebte Natascha da auf Cap d’Antibes rezitiert hat.
    Von Danton. Quatsch! Danton ist dieser Maler mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! (Jetzt kommt die Kälte schon die Beine herauf.) Die ›Göttliche Komödie‹ hat er geschrieben. Komisch, ausgerechnet
der
Gesang fällt mir jetzt wieder ein. Wohl schon Agonie …
    »Hallo! Hallo!«
    Ja, schreit nur schön. Ich kann euch nicht helfen. Wenn ich jetzt sterbe, dann sterbe ich intellell. Ich behalte doch nie auch nur den Namen eines einzigen Dichters oder Musikers oder Bildhauers. Bin immer ein einfacher Mann geblieben. Scheißfrack! Aber an diesem Knick in der Lebensmitte scheint was dran zu sein. Mich wenigstens hat es erwischt. Und wie. Mein lieber Mann!
    Gerade in der Mitte meiner Lebensreise
    Befand ich mich in einem dunklen Walde,
    Weil ich den rechten Weg verloren hatte.
    Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen.
    Der wilde Wald, der harte und gedrängte,
    Der in Gedanken noch die Angst erneuert,
    Fast gleichet seine Bitternis dem Tode …
    Dem Tode. Da haben wir’s. Warum mußte ich mir gerade diesen Quatsch merken? Jetzt ist die Kälte schon im Bauch. Die Finger frieren ab. Ich kann nicht mehr vernünftig denken …
    »Hallo! … Hallo! …« Nur noch ganz verweht und leise drang die Stimme an sein Ohr. Sie ging ihn nichts mehr an.

[home]
1946
    Ein ›Wirtschaftswunder‹ hat es nie gegeben!
     
    Professor Dr. ALEX MÖLLER ,
ehemaliger Finanzminister
der Bundesrepublik Deutschland

1
    Auf einem stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt hielt Jakob Formann Wache vor dem Stacheldrahtzaun neben der Einfahrt A des amerikanischen Fliegerhorsts Hörsching in der Nähe von Linz. Er lehnte da um 17 Uhr 30 am 3. November 1946 und hörte seit langem das Dröhnen der Motoren einer ›Flying Fortress‹, die beharrlich über dem Flughafen ihre Runden drehte.
    Zuerst hatte Jakob noch den Kopf gehoben und die ›Flying Fortress‹ beobachtet, doch bald war ihm das zu strapaziös geworden. Mochten die Piloten der Maschine besoffen oder verrückt oder beides sein – ihn interessierte es nicht. Er hatte das Dritte Reich, den Krieg in Rußland und zahlreiche weitere lebensgefährliche Ereignisse überstanden und dabei herausbekommen, daß es nicht lohnt, in einer Welt wie dieser über irgend jemanden empört, begeistert, traurig, erfreut, erstaunt, verblüfft, will sagen: auch nur geringstens gefühlsmäßig engagiert zu sein. Es lohnt nicht, wegen irgend jemandem oder irgend etwas den Atem, geschweige denn den Kopf zu verlieren. Jakob Formann war seit Jahren – und, wie er sich ausgerechnet hatte, wohl noch auf Jahre hinaus – vollauf mit Überleben beschäftigt. Solcherlei Erkenntnis hatte ihm seinen stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt beschert.
    Die ›Flying Fortress‹ drehte nach wie vor ihre Runden. Sie donnerte über den entspannten ›Civilian Guard‹ Jakob Formann hinweg, der in die Lektüre des Annoncenteils des NEUEN ÖSTERREICH vom Vortag vertieft war.
    Der Annoncenteil nahm den größten Raum der nur acht Seiten umfassenden Zeitung ein. Versunken las Jakob, was so gesucht und was geboten wurde …
    Gesucht: politisch unbelasteter Mezzosopran; schwarze Breeches-Hosen und Schaftstiefel (ach ja, dachte Jakob) gg. Herrenfahrrad; linker Herrenhalbschuh (42) eines Oberschenkelamputierten gg. rechten; Filzhut gg. Bratpfanne; Kleinbildkamera gg. Kinderwagen;

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