Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)
rief jemand aus dem Saal. Und die Zivilisation verliert allmählich ihr kulturelles Gedächtnis, verstehen Sie? Aber da sind die tausend Jahre um, und im geheimen Labor wird die DVD mit der Bibel-Übersetzung für Gehörlose aufgetaut. An dieser Stelle wird ein Krimi-Motiv eingeflochten, böse Kräfte treten in Erscheinung, die nicht wollen, daß dieaufgetaute DVD in den Besitz der Nachkommen gelangt, aber letztendlich kommt das Wort Gottes an den richtigen Adressaten. Gut, gut – eine neue Welle rollte an Gabriel heran. Aber das Problem besteht darin, fuhr Gabriel fort, daß die Zivilisation, da sie die Fähigkeit verloren hat, Zeichensysteme zu verstehen, die Botschaft nicht entschlüsseln kann. Die Leute begreifen dieses komplizierte System der Informationsübertragung als eine Kombination von Gesten, von denen jede einzelne nicht mehr ist als, sagen wir, eine bewegliche Hieroglyphe. Sie kopieren alle wichtigen Zeichen der Gebärdensprache und geben jedem eine eigene, ganz neue Bedeutung. Dann beginnen sie, dieses neue System der Informationsübertragung zu nutzen. Sie füllen jungen Wein in alte Schläuche! – rief, vom Auditorium bejubelt, jemand aus dem Saal. Genau, stimmte Gabriel wieder zu, genau. Am interessantesten ist aber, daß sie, wenn sie mit Hilfe des aus der Vergangenheit übernommenen Zeichensystems kommunizieren, unwillkürlich im täglichen Leben den Text der Heiligen Schrift wiedergeben. Sie schließen sich an ihren Energiekreislauf an! – rief Botkin und drehte sich zum Auditorium. Ja, griff Gabriel den Gedanken auf, de facto dringt der Text der Heiligen Schrift in ihren Alltag wie ein Virus, von dem sie nicht mal etwas ahnen, wie beim Computer, verstehen Sie? – wandte er sich an Julij Jurijowytsch. Der nickte unsicher. Und das beeinflußt auf überraschende Weise die ganze Entwicklung der Zivilisation. Positiv? – fragte derjenige, der mitschrieb. Natürlich positiv, sagte Gabriel, denn de facto benutzt die gesamte Zivilisation statt eines Dudens jetzt ein Wörterbuch biblischer Begriffe und ganze Stücke aus der Heiligen Schrift, zum Beispiel das Buch der Propheten. Warum gerade das Buch der Propheten? – fragte jemand besorgt.Weil es genau in der Mitte der Heiligen Schrift steht, erklärte Gabriel, und der Wahrscheinlichkeitstheorie zufolge am häufigsten gebraucht wird. Irgendeine Information, egal welche, also zum Beispiel, was steht da auf Ihrem Zettel? – fragte Gabriel einen Anonymen Alkoholiker in der dritten Reihe, der ein Stück Papier in der Hand hielt. Verlegen stand er auf, ein ganz einfacher Text, erklärte er; macht nichts, sagte Gabriel, lesen Sie ihn bitte vor; der Anonyme Alkoholiker zögerte und las dann: »Das Aufnehmen von Ambroxol geht bei innerlicher Anwendung schnell und fast vollständig vonstatten. Die stärkste Wirkung entfaltet das Präparat nach dreißig Minuten bis drei Stunden. Die Wirkungsdauer beträgt sieben bis zwölf Stunden.« Wunderbar, sagte Gabriel, das ist ein wunderbarer Text mittleren Schwierigkeitsgrades, so etwa wie das Buch Hesekiel, Kapitel eins, Vers achtundzwanzig, erinnern Sie sich? – »Wie der Regenbogen steht in den Wolken, wenn es geregnet hat, so glänzte es ringsumher. So war die Herrlichkeit des Herrn anzusehen. Und als ich sie gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörte einen reden.« Das ist die Stelle! – Wirklich? – fragte unsicher Julij Jurijowytsch. Absolut, fuhr Gabriel fort, absolut. Nun also, infolge des aktiven und intensiven Gebrauchs der biblischen Texte kommt es allmählich zu einer Erneuerung der Rezeptoren, die damals, vor tausend Jahren, sakrales Handeln ermöglicht hatten. Anders gesagt, eines Tages erwacht Gott der Herr und siehe, alles funktioniert wieder, irgendwer benutzt das Buch der Propheten und das Buch der Psalmen wieder, verstehen Sie? Benutzt es so aktiv und intensiv, daß Gott einfach reagieren muß. Und er reagiert, das bitte merken Sie sich, äußerst wohlwollend, er spendet Liebe und Segen an unsichtbare, aber zahlreiche Rezipienten.Stellen Sie sich bloß mal vor, was bei denen plötzlich alles abging!! Moment, fiel ihm Julij Jurijowytsch ins Wort, hier gibt es doch einen Widerspruch – die Leute legen doch keinen sakralen Sinn in ihre Botschaften, nicht wahr? Für sie ist das, wie ich Ihren Worten entnehme, doch nichts als ein primitives Kommunikationssystem, das dem Austausch von Informationen dient. Das Auditorium stieß eine Welle von Verärgerung und Enttäuschung aus, Julij
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