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Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Titel: Hymne der demokratischen Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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nur jemanden anlächelt, der genauso ein Stammgast ist. Sie setzten sich an den Tisch und begannen ein lockeres, zu nichts verpflichtendes Gespräch: über Währungskurse, Börsenkrach, Energieträger und Korruption in den Behörden, kurz – worüber sich zwei Intellektuelle eben unterhalten, bevor sie sich am Morgen den ersten genehmigen. Botkin sprach unter anderem über seine Gesundheit, sagte, er kümmere sich in letzter Zeit ernsthaft um sie, und forderte Gabriel auf, dasselbe zu tun. Hier muß erwähnt werden, daß Gabriel sein Sohn hätte sein können, Botkin, laut Personalausweis Dickucha Jewhen Petrowytsch, war ein alter Beatnik und Dissident, sozusagen ein scharfer Splitter der 60er, aber er war sehr umgänglich und duzte gleich jeden. Sein ganzes bewußtes Leben war er Arzt in einer Poliklinik gewesen, darum nannte man ihn auch Botkin, und er genoß in den unterschiedlichsten Kreisen einen guten Ruf. Seine Wohnung, die er als echter Dissident und scharfer Splitter der 60er nur selten aufräumte, war mit Altpapier und Abfall zugemüllt, im Bücherschrank stand auf einem Ehrenplatz ein Foto des Dichters Jewtuschenko. Auf der Rückseite stand: »Der lieben Zhenja mit herzlichem Gruß vom Dichter Jewtuschenko«. Botkin behauptete, die Widmung gelte ihm. Doch! rief er seinen Opponenten zu, die ihm das nicht abkauften, mir! Hier steht es doch – der lieben Zhenja! Vom Dichter Jewtuschenko! Also mir – Jewhen Petrowytsch Dickucha! Botkin behauptete, der Maestro habe ihm das Foto nach einem Auftritt in den wilden Sechzigern höchstpersönlich gewidmet, sei dabei aber so dicht gewesen, daß er nur auf den Namen reagierte, den er aus seiner eigenen Kindheit kannte. Nachdem er in Pension gegangen war und seine äußerst bunt zusammengewürfelte Kundschaft hinter sich gelassen hatte, fing Botkin plötzlich an, sich um seine eigene Gesundheit zu kümmern. Wobei er sich ganz unkonventioneller Methoden bediente. Ich kenne die sowjetische Medizin, rief er seinen Opponenten zu, das könnt ihr mir glauben, ich habe vierzig Jahre in diesem System gearbeitet. Ich gehe nur dann zum Arzt, wenn ich von einer Giftschlange gebissen werde. Botkin begeisterte sich statt dessen für Yoga, Karmadiagnostik und Tantra-Sex. Sein Interesse am Tantra-Sex ließ allerdings schnell nach, ich, sagte er, interessiere mich ja schon für normalen Sex nicht, was also für Tantra-Sex. Schließlich empfahl ihm jemand die Kurse der Anonymen Alkoholiker. Er überlegte und schrieb sich ein. Was wollt ihr denn, rief er seinen Opponenten zu, ich bin selber Arzt, ich kenne die heilende Kraft der Selbstanalyse. Mit dem Trinken hörte er natürlich nicht auf, sagte, die Kurse seien vor allem Selbsttraining und gut für die Karmadiagnostik. Das alles erzählte er jetzt Gabriel und schlug ihm sogar vor, das nächstemal zusammen zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen. Versteh doch, rief er, du hast überhaupt keine Ahnung, was zwischen deinen Chakren abgeht.Also lieber mal hören, was kluge Menschen zu sagen haben. Und was für ein Publikum besucht die Kurse? – interessierte sich Gabriel. Wir sind viele, erklärte ihm Botkin, ein hochintelligentes Publikum, und eine Bar gibt es dort auch.
    Die Kurse fanden in der Aula des Pionierpalasts statt. Den Tisch bedeckte ein rotes Baumwolltuch, die Fenster waren mit schweren Vorhängen verhängt; die Anonymen Alkoholiker kamen einzeln und nahmen wortlos möglichst weit von der Bühne Platz. Gabriel war bereits beschwipst und brachte seine Kamera in Position, aber gleich kam der diensthabende Verantwortliche angerannt, nannte sich Julij Jurijowytsch und sagte, er solle die Kamera ausmachen. Was glauben Sie denn, sagte er, das geht doch nicht! Sie verletzen doch die Anonymität unserer Alkoholiker. Gabriel wußte nicht, was er darauf antworten sollte, aber Botkin zog ihn auf einen Stuhl in der ersten Reihe, hier ist es bequemer, sagte er, und alle können uns sehen. Gabriel fragte sich, wozu das gut sein sollte, aber allmählich waren die Alkoholiker alle beisammen, und es konnte losgehen. Als letzter wurde ein junger Anonymer Alkoholiker hereingeführt, der ziemlich unzufrieden aussah. Er wurde von zwei Sergeanten begleitet und warf den Anwesenden wilde Blicke zu. Also, sagte Julij Jurijowytsch, wir wollen aufstehen und uns zum Zeichen der Solidarität die Hände reichen. Alle standen auf. Gabriel nahm Botkin an der Hand, die Sergeanten packten den festgenommenen Anonymen Alkoholiker. Der versuchte, Widerstand zu

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