Ich bin eine Nomadin
richtig gern getan. Aber es gab mir persönlich etwas zurück: das stolze Gefühl, etwas geleistet zu haben. Pflichterfüllung mag Dir selbstlos, altruistisch vorkommen, aber das Ergebnis ist, zumindest für mich, ein egoistisches Vergnügen.
Der dritte Wert ist kritisches Denken. Das habe ich an der Universität von Leiden gelernt. Meine Professoren gaben uns die Werke diverser Männer und Frauen zu lesen. Sie nannten diese Werke Theorien: Ideen, die richtig oder falsch sein können. Fünf Jahre lang war unsere Hauptaufgabe, die guten von den schlechten Ideen zu unterscheiden und nicht nur die Theorien anderer zu widerlegen, sondern selbst bessere zu entwickeln. Das lehrte uns zu denken und Gedanken, auch sehr komplizierte, als Produkte des menschlichen Geistes zu erkennen. In Leiden gab es nichts Göttliches, abgesehen von der menschlichen Kraft der Vernunft. Es war ein großes Glück, dass ich die Universität besuchen und kritisches Denken üben konnte. Wenn Du Glück hast, wirst auch Du diese wertvolle Fähigkeit erlernen. Doch hüte Dich vor Eiferern jeglicher Couleur. Nimm Dich in Acht vor Menschen, die Dich zu einem religiösen Utopia bekehren wollen. Und hüte Dich vor Professoren, die ihren Studenten nicht beibringen zu denken, sondern ihnen vorschreiben, was sie denken sollen.
In Deinem Leben werden Dich viele Menschen vor den emotionalen Fallgruben warnen, in die ein junges Mädchen stürzen kann. Ich möchte nur eine ansprechen: die Falle des Grolls. Das ist wahrscheinlich das schlimmste geistige Gefängnis auf der Welt – die Unfähigkeit, seine Verärgerung und die angeblich oder tatsächlich erlittenen Ungerechtigkeiten loszulassen. Es gibt Menschen, die sich von einer oder zwei, vielleicht auch von zehn negativen Erfahrungen den Rest ihres Lebens vergiften lassen. Sie lassen ihren Zorn gären, bis ihre Persönlichkeit verrottet. Am Ende sehen sie sich als Opfer ihrer Eltern, Lehrer, Mitschüler oder von Predigern.
Ich werde oft gefragt, ob ich auf meine Mutter oder meinen Vater wütend bin, auf den Koranlehrer, der meinen Kopf gegen die Wand geschlagen hat, auf die holländische Politikerin, die mir die Staatsangehörigkeit aberkennen wollte, auf all die Menschen, die mich beleidigt oder die alles darangesetzt haben, mich zu verletzen und zu erniedrigen. Die Antwort lautet Nein. Ich weiß, dass meine Eltern mich auf ihre Art bedingungslos liebten. Und mir ist klar, dass mich diejenigen, die mich verletzen und erniedrigen wollen, ins Gefängnis des Grolls und des Zorns einsperren wollen. Es wäre unsinnig, sie durch meine Wut auch noch zu belohnen.
Ich weiß mittlerweile, was das Leben in Wahrheit ist: ein Geschenk der Natur. Für alle, die an einen gütigen Gott glauben, ist es ein Geschenk Gottes. Es ist ein Geschenk, das wir nur eine kurze Zeitspanne genießen können. Einige von uns sind länger auf Erden als andere, doch wir alle sterben irgendwann. Es wäre eine Tragödie, wenn wir uns in dieser kurzen Zeit in einen Giftschrank aus Bitterkeit und Zorn einsperrten. Wenn wir in diese Falle tappen, lassen wir uns ablenken von der Aufgabe, das Beste aus unserem Leben zu machen, und werden zu rachsüchtigen, stumpfsinnigen Opfern.
Das Leben hält so viele Chancen für Dich bereit. Ergreife sie mit beiden Händen und erfülle sie mit Leben. Lebe, lache, liebe und behaupte Dich mit einem fröhlichen Gesicht.
Ich werde Dich nicht im muslimischen Glauben erziehen, dem Glauben unserer Vorväter und Vormütter, weil ich finde, dass er mit verhängnisvollen Makeln behaftet ist. Allerdings werde ich Dich mit den verschiedenen Religionen bekannt machen, mit ihren Stiftern und einigen ihrer Anhänger. Ich werde Dich dazu erziehen, an Dich zu glauben, an die Wissenschaft, an Deine Vernunft und an die Kraft des Lebens. Und ich werde niemals versuchen, Dir aufzuoktroyieren, was ich glaube oder nicht glaube.
Jedes Mal, wenn ich gegen die Wertvorstellungen meiner Mutter rebellierte, erpresste sie mich, ja, belegte mich mit grauenvollen somalischen Verwünschungen. »Ich wünsche dir ein Kind, das deinen Gott ablehnt, wie du meinen Gott abgelehnt hast!« Sie erklärte mir, ich könne den Schmerz der Zurückweisung nur nachvollziehen, wenn ich ihn selbst erlebte. Ich bin mir sicher, dass es unglaublich schwer sein wird, Deine Unabhängigkeit zu akzeptieren. Aber selbst wenn es so ist, werde ich versuchen, meinen Schmerz zu verbergen.
Am Sterbebett meines Vaters wusste ich, dass es zwischen seinen und meinen
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