Ich bin eine Nomadin
begleitet wurde, stand ich sehr in der Öffentlichkeit. Doch ich wurde beschützt, meine Freunde und Kollegen dagegen nicht. Gemeinsam mit dem Filmregisseur Theo van Gogh drehte ich einen Film darüber, wie der Islam Frauen zerbricht. Daraufhin wurde Theo von einem muslimischen Fanatiker ermordet, einem in Amsterdam geborenen sechsundzwanzigjährigen Mann, dessen Eltern aus Marokko stammten.
Diese Erfahrungen verarbeitete ich in einem Erinnerungsbuch: Mein Leben, meine Freiheit. Ich beschrieb, wie viel Glück ich gehabt hatte, den Ländern entflohen zu sein, in denen Menschen in Sippen leben und ihr Leben nach den Geboten der Tradition und des Glaubens organisieren. Wie froh ich war, in einem Land zu leben, in dem Frauen und Männer gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger sind. Dass willkürliche Ereignisse meine Kindheit völlig unberechenbar gemacht hatten: die Launen meiner Mutter, die Abwesenheit meines Vaters, die Allüren von Diktatoren, Krankheiten, Naturkatastrophen und Kriege. Ich erzählte von meiner Ankunft in Holland und meinen ersten Eindrücken vom Leben in einem Land, in dem die Menschen nicht Untertanen von Tyrannen sind oder von den Geboten einer Blutlinie beherrscht werden, sondern in dem sie als Staatsbürger ihre Regierung selber wählen.
Auch meine parallel dazu verlaufene, nicht weniger wichtige innere Reise kam zur Sprache, wenn auch nur kurz – Fragen, die mich beschäftigten, meine ersten Schritte, um die neue Welt, in die ich gelangt war, zu begreifen, und welche Erlebnisse mich dazu brachten, meinen Glauben an den Islam und den Sittenkodex meiner Eltern infrage zu stellen.
Als ich Mein Leben, meine Freiheit schrieb, dachte ich, meine Wanderung sei zu Ende. Ich dachte, ich würde in den Niederlanden bleiben, hätte endgültig Wurzeln in ihrem fruchtbaren Erdreich geschlagen. Doch das war ein Irrtum, denn wieder musste ich das Land verlassen. Nach Amerika kam ich, wie viele vor mir, um mir ein Leben in Freiheit und Sicherheit aufzubauen, ein Leben, das einen Ozean weit weg war von dem Zwist, den ich erfahren, den inneren Konflikten, die ich durchlitten hatte. In diesem Buch, Ich bin eine Nomadin, erkläre ich, warum meine Wahl auf Amerika fiel.
Die Leserinnen und Leser von Mein Leben, meine Freiheit haben mich unglaublich unterstützt und ermutigt. Doch sie stellten mir auch Fragen zu Dingen, die in dem Buch nicht zur Sprache gekommen waren. Sie wollten etwas über den Rest meiner Familie erfahren, über das Leben anderer muslimischer Frauen. Immer wieder wurde ich auch gefragt: Wie typisch ist das, was du erlebt hast? Ist das repräsentativ? Ich bin eine Nomadin beantwortet diese Fragen. Es handelt nicht nur von meinem Leben als Umherziehende im Westen, sondern auch vom Leben vieler anderer Immigranten in der westlichen Welt, von den philosophischen und auch ganz praktischen Problemen von Menschen, insbesondere Frauen, die in einer stark in sich abgeschlossenen Tradition leben, umgeben von einer sehr offenen Kultur. Es handelt vom Zusammenprall islamischer und westlicher Ideale. Es handelt vom Kampf der Kulturen, den ich und Millionen andere Menschen bis heute erleben .
Nachdem ich in die Vereinigten Staaten übergesiedelt war und ein weiteres Mal damit begonnen hatte, in einem neuen Land sesshaft zu werden, befiel mich nach dem Tod meines Vaters ein für mich neues, intensives Heimweh. Ich nahm mit der weiteren Verwandtschaft wieder Kontakt auf – Cousinen, Cousins und meiner Halbschwester, die in den USA, Großbritannien und anderswo wohnen – und merkte, dass sie auf unglaublich unsicheren Beinen stehen. Der eine hat AIDS, die andere wurde des versuchten Mordes an ihrem Ehemann angeklagt, und ein Dritter schickt alles Geld, das er verdient, nach Somalia, um seinen Clan zu unterstützen. Sie alle halten daran fest, den Werten unserer Sippe und Allahs treu ergeben zu bleiben. Sie sind Einwohner oder sogar Bürger westlicher Staaten, doch ihr Herz und ihr Verstand sind anderswo zu Hause. Sie träumen von einer Zeit in Somalia, die es nie gab, einer Zeit des Friedens, der Liebe und der Harmonie. Ob sie dort, wo sie sind, jemals Wurzeln schlagen werden? Wahrscheinlich nicht. Ihre Schwierigkeiten sind ein Thema dieses Buchs.
Na und?, werden Sie vielleicht denken. Disfunktionale Familien gibt es doch schließlich in jeder Kultur! Immerhin sind solche Familien, jüdische und christliche, für die Filmemacher in Hollywood eine unerschöpfliche Quelle für hervorragende Unterhaltung.
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