Ich bin eine Nomadin
begehrt werden und wirst sie begehren. Für meine Mutter war das eine grauenhafte Aussicht – wohl bei allen Eltern meldet sich bei der Vorstellung, dass ihr Kind Sex hat, der Beschützerinstinkt. Da ich das Glück hatte, in verschiedenen Kulturen zu leben, habe ich gelernt, dass in Fragen der Sexualität Offenheit besser ist als Repression. Alle Kulturen, die die Sexualität unterdrücken, erreichen das Gegenteil dessen, was sie erreichen wollten: Geschlechtskrankheiten verbreiten sich schneller, und ungewollte Schwangerschaften nehmen zu. Heimliche Abtreibungen kosten oft die Mutter das Leben.
Statt die Sexualität zu verleugnen, bringen Europäer und Amerikaner ihren Kindern, sobald sie alt genug sind, alles bei, was sie über ihren Körper wissen müssen: dass Sexualität etwas Genussvolles ist, dass man wählen kann, wann und mit wem man Sex hat, welche Verhütungsmittel es gibt, wie man sich vor Krankheiten schützt. Dann kannst Du eines Tages die Verantwortung für Deine Sexualität übernehmen und trägst auch das Risiko, womöglich ein Kind in die Welt zu setzen, obwohl Du noch nicht reif dafür bist. Du wirst dafür verantwortlich sein, dass Du Dich nicht ansteckst oder andere infizierst. Offenheit fördert die Fähigkeit, verantwortungsvoll Entscheidungen zu treffen, die auf Informationen und Vernunft gründen statt auf einer Mystifizierung des Geschlechtsverkehrs.
Anders als meine Mutter werde ich Deine Freunde nicht fortjagen.
Mein liebes Kind, ich werde bestrebt sein, Dir die Freiheiten zu geben, die ich nicht hatte. Statt dem Auswendiglernen und den harten Strafen meiner Kindheit werden die Schule und ich in unserer Autorität mehr Gelassenheit an den Tag legen. Wir wollen Dich befähigen, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung für die Folgen Deiner Entscheidungen zu übernehmen und aus Deinen Fehlern zu lernen. Das vermittelt Dir womöglich das gefährliche Gefühl, dass so etwas wie Perfektion möglich ist: das perfekte Spielzeug, die perfekte Freundin, der perfekte Freund, das perfekte Zuhause, die perfekte Umgebung, das perfekte Land. Das ständige Streben nach Innovation, Verbesserung und Fortschritt ist durchaus positiv, aber, mein Kind, so etwas wie Perfektion gibt es nicht. Wer nach Perfektion strebt, ist am Ende frustriert und anfällig für utopische Ideen. Denk in solchen Augenblicken darüber nach, was mit Gesellschaften wie der Deiner Großmütter, in der die Sippe völlig auf das theologische Versprechen des Paradieses fixiert ist, geschehen ist und noch immer geschieht.
Wenn Du in Amerika aufwächst, wirst Du viel von der perfekten Gesellschaft hören. Du wirst viele Ismen kennenlernen: Sozialismus, Kommunismus, alle möglichen Kulte und Kollektivismen. Die Perfektion, die sie versprechen, hat einen hohen Preis, denn Massen von Menschen müssen dafür leiden oder sterben.
Autoritäten herauszufordern, Katz und Maus mit den Lehrern zu spielen, Heimlichkeiten mit anderen Kindern zu haben, von denen meine Eltern und Lehrer nichts wussten – das alles hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich frage mich, ob zu viel Freiheit dem Leben die Würze nimmt. Könnte es sein, dass ich Dir, wenn ich dir zu viel gebe, etwas Wichtiges im Leben vorenthalte? Beschneide ich womöglich Deine Abenteuerlust? Du wirst in einem Amerika geboren, das von vielen Posts geprägt ist: Post-Bürgerrechte, Post-Feminismus, Post-Kalter-Krieg. Vieles wird für Dich selbstverständlich sein. Vor Jahrzehnten musste sich Oriana dafür rechtfertigen, dass sie als alleinstehende Frau Mutter werden wollte. Heute ist das kein Hindernis mehr. Wofür wirst Du kämpfen? Wogegen wirst Du kämpfen?
Mein liebes Kind, vor einem trostlosen Leben fürchte ich mich nicht. Ich fürchte die Trostlosigkeit, die entsteht, wenn man im Leben um nichts mehr kämpfen muss. In Holland zum Beispiel lebte ich im Labor einer Gesellschaft, in der es so gut wie keine Herausforderungen mehr im Leben gab. Die Bürger waren versorgt, von der Wiege bis ins Grab. Wir diskutierten über Sterbehilfe und die Bewegung, die sich für das Recht des Einzelnen auf Hilfe durch einen Arzt aussprach, wenn er oder sie lebensmüde ist. Auch dieses Recht auf einen ärztlich-assistierten Suizid, wenn man lebensmüde ist, sollte vom Staat unterstützt werden. Zu meiner Überraschung waren einige aktive Verfechter dieses Rechts zwischen zwanzig und vierzig. Das Leben hatte sie in Watte gepackt, hatte sie mit zu wenigen Herausforderungen konfrontiert, und ein Tag
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