Ich bin Nummer Vier
können.
Ich weiß, dass ich nicht mehr werde schlafen können. Das kann ich nie, wenn diese Bilder mich besuchen, wenn ich Henris Trauer spüre. Er muss bestimmt dauernd daran denken wie jeder, der unter diesen Umständen weggehen, die einzige Heimat verlassen musste, die er je kannte, in dem Wissen, dass er die Menschen, die er liebte, nie wiedersehen würde.
Ich greife nach meinem Handy und schreibe eine SMS an Sarah. Das mache wir immer, wenn wir nicht schlafen können. Dann reden wir, bis wir müde sind.
Ich schicke meine Nachricht ab. Zwanzig Sekunden später ruft sie an. »Hallo, du«, antworte ich.
»Kannst du nicht schlafen?«
»Nein.«
»Was ist los?« Ich kann sie gähnen hören.
»Du fehlst mir einfach, das ist alles. Seit einer Stunde liege ich jetzt im Bett und starre die Decke an.«
»Du spinnst! Du hast mich doch vor sechs Stunden oder so noch gesehen.«
»Ich wünschte, du wärst noch da.«
Ich kann ihr Lächeln durch die Dunkelheit hören, rolle auf die Seite und halte das Handy zwischen Ohr und Kissen.
»Na ja, ich wünsche mir das auch.«
Und so reden wir zwanzig Minuten. Die zweite Hälfte unseres Telefonats besteht daraus, dass wir beide nur daliegen und dem Atmen des anderen lauschen. Danach fühle ich mich besser, finde es aber noch schwieriger, wieder einzuschlafen.
24
Zum ersten Mal, seit wir in Ohio sind, nehmen die Dinge einen etwas geruhsameren Lauf. Die Schule geht ruhig zu Ende, und die Winterferien bescheren uns elf freie Tage. Sam und seine Mutter nutzen die meisten davon für einen Besuch bei seiner Tante in Illinois. Sarah bleibt zu Hause. Weihnachten verbringen wir zusammen. Das neue Jahr begrüßen wir um Mitternacht an Silvester mit einem innigen Kuss.
Trotz Schnee und Kälte – oder vielleicht um dem Wetter zu trotzen – unternehmen wir Hand in Hand lange Spaziergänge im Wald hinterm Haus, auf denen wir uns in der kalten Luft unter dem grauen Winterhimmel immer wieder küssen.
Sarah hat die Kamera dabei und macht gelegentlich unter dem weißen Schirm aus Schnee auf den Ästen über uns Aufnahmen. Das Weiß auf dem Boden ist fast unberührt bis auf unsere Spaziergangspuren. Denen folgen wir nun zurück, von Bernie Kosar angeführt. Er rast immer wieder ins Gebüsch, jagt Kaninchen in kleine Höhlen und Eichhörnchen die Bäume hinauf. Sarahs Wangen und die Nasenspitze sind rot vor Kälte und lassen ihre Augen noch blauer leuchten. Ich starre sie an.
»Was ist?«, fragt sie lächelnd.
»Ich bewundere nur die Aussicht.«
Sie verdreht die Augen. Der Wald ist dicht bis auf ein paar Lichtungen, in die wir ständig stolpern. Ich weiß nicht, wie weit er sich in eine Richtung erstreckt, aber bei allen unseren Spaziergängen haben wir noch nie seinen Rand erreicht.
»Bestimmt ist es im Sommer wunderschön hier«, meint Sarah. »Wahrscheinlich sind die Lichtungen ein herrlicher Platz für Picknicks.«
Ich spüre einen Schmerz in der Brust. Der Sommer ist noch fünf Monate entfernt. Wenn Henri und ich im Mai noch hier sein sollten, sind wir sieben Monate in Ohio. Fast unser längster Aufenthalt an einem Ort.
»Jep«, entgegne ich.
»Sarah scheint verwirrt. »Waaas?«
»Ich blicke sie verständnislos an. »Was meinst du mit ›waaas‹?!«
»Ähm … ein ›Jep‹ ist nicht besonders überzeugend.« Ein Schwarm Krähen fliegt mit lautem Gekrächze über uns her.
»Ach, wenn nur jetzt schon Sommer wäre!«, sage ich.
»Das wünsche ich mir auch. Ich kann gar nicht glauben, dass wir morgen wieder in die Schule müssen.«
»Argh, erinnere mich bloß nicht dran!«
Wir gelangen auf eine weitere Lichtung, größer als die anderen, ein fast perfekter Kreis von ungefähr dreißig Metern Durchmesser. Sarah läuft in die Mitte und lässt sich lachend in den Schnee fallen. Sie rollt auf den Rücken und macht mit den ausgestreckten Armen einen Schneeengel. Ich lasse mich neben sie fallen und tue es ihr gleich. Unsere Fingerspitzen berühren sich leicht, als wir die Flügel machen.
»Es ist, als hielten wir Flügel«, sagt sie.
»Ist das möglich? Ich meine, wie können wir fliegen, wenn wir unsere Flügel halten?«
»Natürlich ist es möglich. Engel können alles.« Sie dreht sich um und kuschelt sich an mich. Ihr kaltes Gesicht an meinem Nacken lässt mich zurückschrecken. »Brrr, dein Gesicht ist wie Eis!«
Sie lacht. »Komm und wärme mich!«
Ich nehme sie in die Arme und küsse sie inmitten der Bäume unter freiem Himmel. Die einzigen Geräusche kommen von den
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