Ich bin unschuldig
nicht stark – man muss sich sehr auf die dunklen Sträucher konzentrieren, um zu sehen, dass es überhaupt regnet. Über dem Apfelbaum schwebt ein helles Halogenrechteck. Ich habe immer noch keine Rollos bestellt.
Ich will gerade den Lichtschalter betätigen, als Philip sagt: »Eins verstehe ich nicht.«
»Gott!« Ich fahre mir mit der Hand ans Herz. »Hast du mich erschreckt.«
Er sitzt im Düstern auf dem Sofa.
»Die Tätowierung. Woher weißt du davon?«
Ich schalte das Licht ein. Das leere Kissen neben ihm birgt noch den Abdruck von Millie.
»Welche Tätowierung?«
»Anias Tätowierung, die Kirschen.«
Ich stelle Tassen und Teller in die Geschirrspülmaschine. Ich öffne den Schrank und hole Kehrblech und Handfeger heraus, um die Krümel vom Boden aufzufegen. »Ich habe sie gesehen, auf ihrer Haut. Ihr Top war hochgerutscht. Mein Top«, ich sehe ihn demonstrativ an, »das du ihr seltsamerweise gegeben hast, zusammen mit all den anderen Sachen. Obwohl, also …« Ich halte im Fegen inne und überlege. »Vielleicht habe ich sie auch gar nicht gesehen. Vielleicht hat die Polizei mir davon erzählt, und ich habe mir nur eingebildet, sie gesehen zu haben. Bei den stundenlangen Befragungen ist sie vielleicht zur Sprache gekommen.«
»Gott. Stundenlange Befragungen. Es tut mir so leid.«
»Ich dachte, die würden mich nie wieder rauslassen. Aber – hurra – da bin ich! Und jetzt lasse ich dir eine Wanne ein.«
»Ich bin schrecklich müde, Gabs.«
»Ich weiß.«
»Ich muss zur Polizei gehen.«
Ich drücke ihm einen Kuss auf den Kopf. »Später«, sage ich. »Dafür ist später noch Zeit genug.«
Ich gehe die Treppe hoch ins Bad, drehe die Wasserhähne auf und gebe eine Kappe von meinem kostbaren Deep-Relax-Badeöl hinein. Viel braucht man nicht.
Er kommt herein. Er ist so müde, dass er kaum noch ein Wort herausbringt. Mit dem Rücken zu mir zieht er sich mit unbeholfenen Bewegungen aus und taucht ins Wasser. »Wie schön«, sagt er.
»Wie wär’s mit einem Whisky?«
»Noch besser.«
Als er sich mit einem großen Glas in der Hand behaglich zurücklehnt, ziehe ich meine Trainingshose an. Ich wünschte, ich hätte meine Asics wieder. Die Dunlops federn zu stark. Ich werfe sie zurück in den Schrank und nehme stattdessen Philips Asics .
Ich stehe in der Tür zum Bad. Ich betrachte das Gesicht, das ich geliebt habe. Seine Augenlider schließen sich. Die Erschöpfung, der Stress, die Trauer – zum ersten Mal sieht er älter aus als ich. »Ich gehe eine Runde laufen, mein Schatz«, sage ich.
Und verlasse das Haus.
Ich laufe lieber abends als morgens. Ich schlafe dann besser. Es fällt mir schwer, den Aufruhr des Tages zur Ruhe kommen zu lassen. Das gelingt mir nicht immer. Der Regen hat aufgehört, vielleicht hat er aber auch gar nicht richtig angefangen. Die Wolken haben mehr gedroht als tatsächlich gebracht.
Ich nehme den Pfad um den Teich. Es ist nass, klebrig unter meinen Schritten. Selbst mit einem zweiten Paar Socken sind Philips Asics mir zu groß. Der Matsch tut sein Übriges. Ich kriege kein Tempo. Ich brauche das, um es rauszulaufen. Jeder hat seinen eigenen Bewältigungsmechanismus. Meiner ist das Klatschen und Stampfen von Gummimischung auf Teer, Kies und Gras.
Kleine Fliegen umschwirren meinen Kopf. Ich fuchtele sie fort. Er kann idyllisch sein, der Wandsworth Common, in bestimmten Jahreszeiten, bei bestimmtem Licht – ein Flickwerk aus üppigen Grüntönen, der blasse Dunst von Weißdorn, Herbst in strahlender Aufmachung. An diesem Abend ist er dumpf und flach. Im Unkraut liegt ein umgekippter Einkaufswagen. Gelangweilte Gänse versammeln sich.
Ich verlasse den Teich und laufe auf dem Mittelweg weiter. An einem Geländer hängt ein schwarzer Schal – vielleicht Kaschmir, obwohl das wegen der Regentropfen auf Wolle auch nur so aussehen kann. Ein kaputter Kinderroller ragt aus den Sträuchern. Gegenstände. Fallen gelassen. Vergessen. Weggeworfen.
Ich halte Ausschau nach dem Armband. Das tue ich immer.
Das Atmen fällt mir schwerer, wenn ich durcheinander bin. Es bleibt in meiner Kehle stecken und verheddert sich dort.
Die wahre Hölle des Lebens, hat mal jemand gesagt, ist, dass jeder seine Gründe hat.
Laufen: Ohne das Laufen hätte ich das hier nicht durchgestanden. Das falsche Lächeln, das tapfere Gesicht, die vorgespielte Familienfröhlichkeit, immer in der Hoffnung, es würde aufhören. Geburtstagstees. Mittagessen im Pub. »Date Nights«. Laufen wurde zu einer
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