Ich hasse dich - verlass mich nicht
dass eine Verbindung zwischen verschiedenen Formen von Missbrauch, Vernachlässigung und Borderline-Erkrankungen besteht.
Veranlagung versus Erziehung
Die Frage, welchen Einfluss die Veranlagung bzw. die Erziehung hat, ist schon alt und wird immer noch kontrovers diskutiert. Sie bezieht sich auf viele Aspekte des menschlichen Verhaltens. Leidet man unter einer Borderline-Erkrankung, weil dies das biologische Schicksal ist, das man von den Eltern geerbt hat, oder aufgrund der angemessenen oder unangemessenen Erziehung durch die Eltern? Verursachen die biochemischen und neurologischen Anzeichen der Störung die Krankheit, oder werden sie durch die Krankheit verursacht? Warum leiden manche Menschen unter einer Borderline-Erkrankung, obwohl sie scheinbar normal erzogen wurden? Warum erkranken andere wiederum nicht daran, obwohl sie durch Traumata und Missbrauch in der Vergangenheit belastet sind?
Diese Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, kann zu falschen Annahmen führen. Auf der Entwicklungstheorie basierend könnte man beispielsweise zu dem Schluss kommen, dass die ursächliche Richtung immer nach unten führt. Das heißt, eine distanzierte, gleichgültige Mutter würde ein unsicheres Borderline-Kind erziehen. Aber die Beziehung ist wahrscheinlich vielschichtiger und beeinflusst sich gegenseitig: Ein Säugling, der unter Koliken leidet, nicht reagiert und unattraktiv ist, kann in der Mutter Enttäuschung auslösen, was zu Distanz führt. Unabhängig davon, was zuerst vorhanden war, interagieren beide miteinander und setzen interpersonale Muster fort, die über Jahre hinweg andauern und sich auf andere Beziehungen erstrecken können. Die mildernde Wirkung anderer Faktoren – ein unterstützender Vater, bejahende Familienmitglieder und Freunde, eine bessere Ausbildung, körperliche und geistige Fähigkeiten – wird schließlich die emotionale Gesundheit des Einzelnen bestimmen.
Obwohl es bisher keinen Nachweis gibt, dass es ein spezielles Gen für die Borderline-Persönlichkeitsstörung gibt, können Menschen aufgrund ihrer Chromosomen verwundbar sein, was sich später in einer bestimmten Krankheit ausdrücken und von einer Vielfalt an beitragenden Faktoren abhängen kann – Enttäuschungen und Traumata in der Kindheit, bestimmte Stressereignisse im Leben, gesunde Ernährung, Zugang zu medizinischer Versorgung usw. So wie einige Forscher glauben, dass erbliche, biologische Schwächen beim Alkoholstoffwechsel des Körpers mit der Neigung des Einzelnen zu Alkoholismus in Verbindung gebracht werden können, so besteht möglicherweise eine genetische Neigung zur Borderline-Erkrankung, bei der es sich um eine biologische Schwäche bei der Stabilisierung von Stimmungen und Impulsen handelt.
Viele Borderline-Patienten müssen lernen, das Schwarz-Weiß-Denken, bei dem es nur ein Entweder-oder gibt, aufzugeben. Deshalb kommen die Forscher zu dem Schluss, dass das wahrscheinlichste Modell für die Borderline-Erkrankung (und für die meisten medizinischen und psychischen Erkrankungen) aus mehreren beitragenden Faktoren besteht, die auf Veranlagung und Erziehung zurückzuführen sind, gleichzeitig am Werk sind und in einer Wechselbeziehung zueinander stehen. Die Borderline-Persönlichkeit ist ein komplizierter Wandteppich, der mit unzähligen, sich kreuzenden Fäden reich bestickt ist.
58 Randy A. Sansone und Lori A. Sansone: »The Families of Borderline Patients: The Psychological Environment Revisited«, in: Psychiatry 6 (2009), S. 19–24
59 Jerold J. Kreisman und Hal Straus: Sometimes I Act Crazy: Living with Borderline Personality Disorder, Hoboken, NJ: John Wiley & Sons, 2004, S. 13–15 ( Zerrissen zwischen Extremen. Leben mit einer Borderline-Störung. Hilfen für Betroffene und Angehörige , München: Kösel, 2. Aufl. 2007)
60 Eric Lis, Brian Greenfield, Melissa Henry u. a.: »Neuroimaging and Genetics of Borderline Personality Disorder: A Review«, in: Journal of Psychiatry and Neuroscience 32 (2007), S. 162–173
61 Paul A. Andrulonis, Bernard C. Glueck, Charles F. Stroebel u. a.: »Organic Brain Dysfunction and the Borderline Syndrome«, in: Psychiatric Clinics of North America 4 (1980), S. 47–66
62 Margaret Mahler, Fred Pine und Anni Bergman: Die psychische Geburt des Menschen. Symbiose und Individuation, Frankfurt: Fischer-TB 1980
63 Ein Brief von T. E. Lawrence and Charlotte Shaw (18. August 1927), wie zitiert von John E. Mack: A Prince of Our Disorder: The Life of T. E. Lawrence, Boston:
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