Die Totensammler
Prolog
Emma Green hofft, der alte Mann ist nicht tot. Es ist einer jener Momente, in denen man sich wünscht, dass die eigenen Befürchtungen nicht zutreffen. Das Café jedenfalls ist tot. In den letzten Stunden waren lediglich zwei Kunden hier, und sie haben jeder nur einen Kaffee bestellt. Doch ihr Chef ist nicht der Typ, der einen an einem mauen Montagabend früher gehen lässt; außerdem trägt die Flaute nicht gerade dazu bei, seine Laune zu heben. Auf dem Parkplatz hinter dem Haus steht ihr Wagen zusammen mit dem ihres Chefs und ein paar anderen. Weiter am Rand ein Müllcontainer, neben dem sich mehrere Plastikkisten stapeln. Die Luft ist von Kohlgeruch erfüllt. Es gibt dort kaum Licht. Trotzdem kann sie den alten Mann erkennen, der mit geöffnetem Mund, geschlossenen Augen und zur Seite geneigtem Kopf zusammengesackt auf dem Vordersitz hockt. Er sieht genauso aus wie ihr Großvater, als sie ihn vor ein paar Jahren leblos im Badezimmer auffanden.
Sie läuft zum Wagen hinüber und späht ins Innere. Von der Unterlippe des Mannes hängt ein Faden Spucke bis auf seine Brust hinab. Er ist fast kahl. Vor ein paar Stunden war er noch im Café. Kaffee und Gebäck; er saß mit einer Zeitung in der Ecke und hat versucht, ein Kreuzworträtsel zu lösen. »Reich des Teufels« , hat er immer wieder vor sich hin gemurmelt und mit seinem Stift auf den Tisch getrommelt. Sie warf einen Blick über seine Schulter, überzeugt, dass sie die Antwort kennt. Doch dort war nur Platz für fünf Buchstaben. Und Christchurch hat zwölf. »Hades« , sagte sie schließlich, und er lächelte und bedankte sich höflich.
Sie will gegen das Fenster klopfen, in der Hoffnung, dass er nur schläft, aber dann würde sie ihn wecken und ihm einen Schrecken einjagen, und das könnte ziemlich peinlich werden. Falls er jedoch nicht schläft, hat sein Herz vielleicht erst vor wenigen Sekunden aufgehört zu schlagen, und dann könnte man ihn wiederbeleben. Allerdings ist das unwahrscheinlich, er hat das Café vor über einer Stunde verlassen. Es gibt keinen Grund für ihn, eine Stunde im Wagen zu hocken und dann zu sterben, es sei denn, er hat das Kreuzworträtsel gelöst. Tja, vielleicht hat ihn ja der Teufel geholt. Sie starrt durch die Fensterscheibe und streckt die Hand danach aus, ohne sie jedoch zu berühren. Sie sollte es besser dem Nächsten, der vorbeikommt, überlassen, sich um ihn zu kümmern. Allerdings wäre der alte Mann am nächsten Morgen immer noch genauso tot, nur ärmer, außerdem wäre sein Autoradio fort.
Wäre sie gerade in einem parkenden Wagen gestorben, würde sie dann wollen, dass die Leute einfach an ihr vorbeilaufen?
Sie klopft gegen das Fenster. Er rührt sich nicht. Sie klopft erneut. Nichts. Mit einem flauen Gefühl in der Magengrube packt sie den Griff. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Sie öffnet sie und legt ihm die Finger an den Hals; mit dem Handgelenk schnippt sie die Spucke wie den Faden einer Spinne von seinem Kinn, und er landet auf ihrem Arm. Seine Haut ist noch warm, aber er hat keinen Puls mehr, nicht an dieser Stelle, also lässt sie ihre Finger weitergleiten und …
Er schnappt nach Luft und zuckt zurück. »Was zum Teufel?«, stößt er hervor und blinzelt heftig. »Hey, was zum Teufel machst du da?«, brüllt er.
»Ich …«
»Du verdammte Diebin«, zischt er und klingt jetzt gar nicht wie ihr Großvater – zumindest nicht, bevor er an Alzheimer erkrankte –, greift nach ihrer Hand und zieht sie ins Innere. »Du wolltest …«
»Ich dachte …«
»Du Nutte!«, brüllt er und spuckt sie an. Sie riecht Altmännerschweiß und Altmänneressen, und auch seine Klamotten müffeln nach altem Mann; er hält sie mit seinen knochigen Fingern fest umklammert. Ihr wird schlecht. Und ihr Rücken tut weh, aber das tut er eigentlich immer, seit dem Unfall letztes Jahr. Sie packt seine Hand und versucht seinen Griff zu lösen.
»Du wolltest mich beklauen«, sagt er.
»Nein, ich arbeite im … im …«, bringt sie stockend hervor, »Kaffee mit … mit Gebäck. Ich, ich dachte, Sie …« Sein Atem ist so heiß und feucht, dass ihr fast das Make-up verläuft. Sie kann ihren Satz nicht beenden.
Der Mann lässt los und schlägt ihr mit voller Wucht ins Gesicht. So heftig wurde sie in ihren siebzehn Jahren auf diesem Planeten noch nie geschlagen. Ihr Kopf schnellt zur Seite, und ihre Wange brennt. Dann sind seine Hände auf ihrer Brust. Erst denkt sie, er will sie begrapschen, doch er versetzt ihr einen Stoß,
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