Ich hatte sie alle
bei dem Job um etwas »Seriöses« und auf keinen Fall um »Telefonmarketing« handele.
Ich bin aufgrund mannigfaltiger Erfahrung etwas misstrauisch gegenüber Dingen geworden, auf denen explizit drangeschrieben steht, was sie sind beziehungsweise nicht sind. Ich meine, ich stecke mir ja auch keinen Zettel an den Hut, auf dem »Hut« steht. Und wenn ich mir statt eines Hutes einen Truthahn aufsetzte, würde die ganze Angelegenheit auch nicht dadurch besser werden, dass ich »kein Hut« auf meinen Truthahn schriebe. Ich denke, wir verstehen uns.
Aber wie gesagt, ich brauchte das Geld und beruhigte mich damit, dass ich als neue Kollegin nur »nett« und nicht etwa »aufgeschlossen« sein sollte oder gar den heimlichen Wunsch zu hegen hatte, mich »in der Welt der bizarren Erotik neu zu entdecken«.
Und siehe da, die erste positive Überraschung in dem neuen Call-Center war perfekt. Es gab keine Telefone.Spontan dachte ich, dass mir die Arbeit dort gefallen könnte. Dann begrüßte mich mein zukünftiger Chef, der Herr Wedel, und die Zeit der Überraschungen war flugs vorbei. Herr Wedel sah genauso aus wie die Jungen, die man immer vergisst, wenn man die Mitschüler seiner ehemaligen Abiturklasse aufzählt, auch wenn es ein sehr geburtenschwacher Jahrgang war.
Herrn Wedels Motivation, dieses Call-Center ohne Telefone aufzubauen, war eindeutig die gewesen, einmal in seinem Leben gesiezt oder wenigstens bemerkt zu werden. Seine erste Frage an mich war, ob ich noch Fragen hätte. Ich sagte »Erst mal nicht« und fragte dann, worum es denn ginge. Herr Wedel sagte, ihm gefiele meine Einstellung und eine nette Kollegin würde mir das jetzt mal zeigen.
Die nette Kollegin saß vor einem Computerbildschirm und piekte hektisch mit drei Fingern auf der Tastatur herum, als würde sie Brüsseler Spitze online klöppeln wollen. Ich fragte, ob der freie Stuhl neben ihr noch frei sei. Sie sagte ja, und dann zeigte sie es mir.
Es war so grausam, dass ich es nicht einmal in meine schlimmsten, schmutzigsten Phantasien mit einbezogen hätte, wenn ich Kontrolle über meine Phantasien hätte. Denn meine Kollegin war »Flirt«. Sie war all die coolen Leute, die genauso sind wie du, und sie war alle auf einmal. Denn die gesamten SMS-Botschaften der hoffnungsvollen Handyflirter landeten alle auf ihrem Computerbildschirm, und sie beantwortete sie mit E-Mails, die dann aber wieder als SMS bei den zahlreichen Handyopfern landeten. Je nachdem, ob der »Klient«weiblich oder männlich war, war sie das Gegenteil. Selbst für den Fall einer unvorhergesehenen Homosexualität hatte die nette Kollegin vorgebaut: »Wenn du nicht genau weißt, was die so wollen, schreibste einfach, dass du Chris oder Alex heißt. Dann kannste dir dein Geschlecht noch zehn Minuten später aussuchen oder so, ne?«
Ich war tief beeindruckt. Wer hätte gedacht, dass es einen Minijob gibt, der genau wie das Sexualleben der Weinbergschnecke funktioniert. Eine geschlagene Stunde saß ich mit der netten Kollegin da und starrte gebannt auf ihren Monitor. Ich sah, wie sie unter dem Tarnnamen Marco die kleine Angela nach ihrem Männergeschmack ausfragte und dann wieder unter dem Pseudonym Vanessa den Ulf aus Heidelberg scharfmachte. Zwischendurch verdrückte sie drei Bananen, eine Literflasche Cola light und zwei Bild der Frau .
Vier andere nette Kolleginnen saßen im Raum verstreut und stöhnten zwischendurch auf, wobei sie kodierte Phrasen droschen wie: »Oh nein, ich habe wieder den mit dem Gummimatten-Fetisch online« oder »Weiß jemand, was gerade auf Sat 1 läuft? Ich hab dem Typen geschrieben, dat ich auch gerade gucke.«
Das Einzige, was mich vom sofortigen Erbrechen zurückhielt, war, dass es von Minute zu Minute noch ekelerregender wurde: »Und wennde gar nicht weißt, was du so antworten sollst, dann mach’ einfach so einen Smiley oder so dazu«, sagte meine nette Kollegin noch, bevor ich wieder zurück ins Chefbüro wankte.
»Herr Wedel«, keuchte ich, »das hier ist das Mieseste,Verabscheuungswürdigste und Widerlichste, was ich jemals auf dem freien Arbeitsmarkt gesehen habe.«
Herr Wedel sah mich an, als würde er noch überlegen, ob ich den Job oder ihn persönlich meinte: »Es zwingt Sie natürlich keiner, hier zu arbeiten.«
Ich holte tief Luft.
»Zahlen Sie zum Ende oder Anfang des Monats?«
Herr Wedel reichte mir wortlos meinen Arbeitsvertrag und den Schichtplan. Schon am nächsten Tag würde ich alle coolen Leute sein, die genauso sind wie du,
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