Ich hatte sie alle
hast dudich für die Arbeit hier entschlossen, Katinka? Bestimmt, weil es die größte Herausforderung in der Sozialarbeit ist. War bei mir genauso, während des Studiums habe ich ja noch viel mit Behinderten gearbeitet, aber dann kam ja vor vier Jahren der Krebs, und dadurch habe ich mich persönlich noch mal total entwickelt, in der Examensarbeit wurde darauf aber keine Rücksicht genommen, und …«
Katrin erzählt, wie sie trotz allem ihr Studium durchgezogen hat, zwei ganz süße Patenkinder bekommen hat, nebenbei noch einem Motorradclub beigetreten ist und es zusätzlich noch irgendwie schafft, kiloweise Indianerschmuck im Internet zu ersteigern. Alles ohne Gebärmutter.
»Das Wichtigste ist ja, dass man sich auch von der ganzen Sache abgrenzen kann«, beendet sie seufzend ihre Predigt.
Unauffällig mustere ich Katrin. Sie ist ein blonder Berg mit Brille, ihre grüne Wachsjacke ist mit einem riesigen roten Aufnäher, auf dem STREETWORK steht, bestickt, an den fleischigen Ohren und Fingern baumelt bei jeder Bewegung ihr Silber- und Türkisschmuck mit. Es ist in jedem Fall eine gewisse Abgrenzung, wenn man bei der Arbeit wie der Weihnachtsbaum der Apatschen herumläuft.
Ich sehe auf die Uhr. Halb acht. Ich habe die schlimme Befürchtung, dass bis zum Schichtende um halb elf keine minderjährigen Junkies mit nässenden Ekzemen auftauchen werden, um mich von meinem Schicksal zu erlösen. Die wissen ja auch, wer wann arbeitet.
Katrin hat inzwischen die erste Kanne Tee ausgetrunken und stellt mir ihre erste nicht-rhetorische Frage:
»Wie weit bist du denn jetzt mit dem Studium, Katinka?«
»Ich, äh, gar nicht, ist nur ’n Job … ich bin eigentlich Autorin, also, ich schreibe.«
Katrin zieht eine Augenbraue hoch, beißt in ihr drittes Brötchen und murmelt anerkennend: »Find’ ich gut. Find’ ich echt gut. Ich selbst mache ja auch viel im Krea-Bereich. Ich bastle sehr viel. Etwas zu erschaffen ist ja besonders wichtig, nachdem ich vor vier Jahren meine Gebärmutter verloren habe.«
Langsam frage ich mich, ob die Mädels hier auf der Straße schon heroinabhängig waren, bevor Katrin mit dem Bus aufkreuzte.
Endlich kommt eine Klientin hereingeschneit. Ich kenne sie vom Sehen, sie will nur Spritzen tauschen und Kondome haben. Sie betont, dass es ihr auch scheißegal sei, welches Tier darauf abgebildet sei.
»Das kann man auch anders sagen«, bemerkt Katrin.
Die Klientin bemerkt: »Doofe Fotze.«
Katrin kontert mit: »Busverbot.«
Als wir wieder allein sind und Katrin den Vorfall notiert hat, gibt sie mir noch ein paar wertvolle Hinweise zum Umgang mit Drogensüchtigen: »Die müssen schon selbst den Dialog suchen. Zuhören ist das Wichtigste. Manche sind schon ganz schlimm dran hier, aber man darf sich auch nicht alles bieten lassen, sonst verliert man auch die Autorität.«
Ich nicke zustimmend. Bloß nicht die Autorität verlieren,schon klar. Das wäre ja das Schlimmste, direkt nach Gebärmutterkrebs.
Der Bus füllt sich: mit Teenagern, die im Heim angefixt worden sind, mit Vierzigjährigen, die an allen Seuchen der Welt leiden und deswegen nicht wirklich darüber nachdenken wollen, noch eine Ausbildung anzufangen, wie Katrin ihnen vorschlägt.
Ein Mädchen erzählt mir, dass sie letzte Nacht gefoltert und vergewaltigt wurde, sie hat sich aber die Farbe des Autos gemerkt, dunkel, und ein Kindersitz war auch drin. Ich sitze nur schweigend da, weiß nicht, was ich sagen soll, streichle dem Mädchen die Hand, sehr täppisch, gebe ihr ein Taschentuch.
Katrin flüstert mir zu: »Wenn sie Vertrauen fassen und erzählen, dann kannst du ruhig nachfragen.«
Was soll ich denn da noch nachfragen? Statt meiner fragt Katrin das Mädchen, laut, deutlich und autoritär: »Hat der Typ denn wenigstens gut gezahlt dafür?«
Ich gehe mal kurz raus, eine rauchen. Meine Lieblingsklientin aus dem Drogenzentrum kommt vorbei, schnorrt sich eine Filterzigarette, sagt mir aber gleichzeitig, dass ich mich gar nicht so einzuschleimen brauche. Außerdem soll ich nicht so viel rauchen, davon bekommt man Krebs. Bei ihr sei das egal, sie hätte schon Aids.
Recht hat sie, mit allem. Ich schenke ihr meine Kippen, denn wenn ich eines nicht bekommen will, dann Krebs. Ich habe keine Angst davor, an Krebs zu sterben. Seit heute habe ich Angst davor, ihn zu überleben.
Die Leute gehen aus, um etwas zu erleben. Und sie wollen nicht mehr nur Statisten sein im bunten Treiben der Nacht. Sie wollen selbst aktiv werden, unterhalten
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