Mortal Kiss
KAPITEL 1
Der erste Tag nach den Ferien
F aye McCarron strich sich eine dunkelbraune, windzerzauste Strähne unter die gestreifte Wollmütze und bückte sich, um ein neues Foto zu machen. Sie wusste nicht, wie lange der Schnee liegen bleiben würde, doch es wäre unsinnig, die Gelegenheit zu verpassen.
»Willst du dich gleich am ersten Schultag verspäten ?« , fragte Liz Wilson ungeduldig. »Du weißt doch, wie stinkig du wirst, wenn du zu spät kommst .«
Faye warf Liz einen kurzen Blick zu, streckte ihr die Zunge heraus und schoss das nächste Foto von den Blumen vor der Winter Mill Highschool.
»Es klingelt jeden Moment « , mahnte Liz.
Faye erhob sich seufzend. Sie war etwas größer als ihre Freundin, worüber Liz immerzu jammerte, während Faye den Unterschied nicht erwähnenswert fand. »Liz, schau mal … Die Rosen sind schneebedeckt, obwohl wir erst Anfang September haben !«
»Ist mir schon klar .« Liz schüttelte sich die braunen Locken aus den perfekt geschminkten dunklen Augen. »Seltsam. Einmal Schnee zu dieser Jahreszeit wäre ja noch in Ordnung, aber man könnte meinen, wir haben Weihnachten. Die ganze Stadt sieht aus wie ein Wintermärchen .«
»Genau .« Faye machte ein weiteres Foto. »Darum werden diese Bilder ja auch das große Ding im Miller .«
Liz schnaubte. »Ach ja? Als ob der Schulzeitung nicht gerade jeder Idiot hier Aufnahmen seines echt coolen Schneemanns schicken würde .«
Faye sah ihre Freundin an und wusste, dass Liz sie neckte. »Hast du mich gerade Idiot genannt ?«
Es war kurz still. »Also « , wechselte Liz elegant das Thema, »gibt’s endlich Neuigkeiten von deinem Vater ?«
Faye schüttelte den Kopf. »Nein .«
»Und gemailt oder angerufen hat er auch nicht ?«
»Nein .«
Nach kurzem Zögern sagte Liz fröhlich: »Na, bestimmt ist er einfach beschäftigt. Wo ist denn seine neueste Ausgrabung ?«
Faye schoss ein letztes Foto, richtete sich auf und setzte die Kappe auf das Objektiv ihrer digitalen Spiegelreflexkamera, die sie letzte Weihnachten von ihrem Vater bekommen hatte. Das teuerste Geschenk, was er ihr je gemacht hatte, wohl in der Hoffnung, sie würde ihn, wenn sie erst älter wäre, damit auf seinen archäologischen Expeditionen als Fotopraktikantin begleiten. Sie konnte es kaum erwarten, genau davon träumte sie seit einer Ewigkeit. Es würde unglaublich schön sein, mit ihm all die wahnsinnigen Orte zu besuchen, von denen er erzählt hatte, doch bis dahin wünschte sie, er würde sich von seinen Reisen öfter melden. Manchmal vergingen Wochen ohne ein Lebenszeichen, und Faye war immer besorgt um ihn, gab sich aber alle Mühe, das zu verheimlichen.
»Er ist in Tansania .«
»In Australien ?« Liz hob die Brauen.
»Nein, Liz, du meinst Tasmanien .«
»Oh .«
»Tansania liegt in Afrika .«
»Na bitte, vermutlich braucht die Post dort ewig. Und die Internet- und Telefonverbindungen sind ständig kaputt .«
Faye musste unwillkürlich lächeln, zog ihre Freundin zu sich heran und umarmte sie kurz. »Danke, Lizzie .«
»Wofür ?«
»Für die Aufmunterung .«
Liz erwiderte die Umarmung. »Wozu hat man Freunde ?«
Plötzlich hörten sie den lauten Motor eines Autos hinter sich und zuckten zusammen. Als sie sich umdrehten, sahen sie einen schwarz glänzenden Cadillac einen Meter vor sich halten. Seine Räder gruben tiefe Spuren in den Schnee.
»Oh mein Gott !« , rief Liz aufgeregt. »Das ist bestimmt er .«
»Wer ?«
»Der Morrow-Junge! Lucas !«
Die beiden Mädchen sahen die Beifahrertür aufgehen, und ein ungefähr sechzehnjähriger Junge stieg aus. Er war groß und breitschultrig, seine strohblonden Haare fielen ihm in die Stirn und über die strahlend blauen Augen. Er zog einen Rucksack über die Schulter, strich sich die Haare aus dem Gesicht und warf dabei einen Blick auf das Schulgebäude.
»Oh mein Gott « , flüsterte Liz theatralisch. »Der ist ja fantastisch. Mach ein Foto von ihm !«
»Was ?«
»Für die Zeitung. Schreib doch eine Geschichte über … über seine Ankunft und das ganze Morrow-Geheimnis .«
»Das Morrow-Geheimnis? Was soll das sein ?«
»Die ganze Stadt spricht darüber. Komm schon, Faye, du hast doch bestimmt gehört, dass die Morrows in unsere Gegend gezogen sind ?«
Das hatte sie. Alle sprachen darüber, dass Mercy Morrow, eine ungemein reiche Erbin, das alte Anwesen im Wald erworben hatte.
»Ich weiß, die ganze Stadt ist fasziniert davon « , sagte Faye, »aber ich versteh nicht, was daran so
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