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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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mitgebracht hat. Damit nimmt er noch im Duschbereich Anlauf. Durch die lebenslange Übung gelingt es ihm, seinem Körper eine erstaunliche Biegsamkeit und gleichzeitig eine beängstigende Schwerfälligkeit zu verleihen. Am Rand des Wasserbeckens springt er hoch, dreht sich mehrmals in der Luft, fuchtelt mit seinen grünen Flossen, schreit »Yahoo!« und rutscht ins Wasser. Alle älteren Schwimmer werden dabei von den Wellen ans Ufer geworfen und einige ungeschickte Grundschüler auf den Beckenboden gedrückt.

Der Kindergeburtstag
    Andy, der ehemalige Kindergartengenosse unserer Tochter, feierte seinen siebten Geburtstag. Drei Kinder und sechs Erwachsene kamen zusammen, um dieses Ereignis zu feiern. Obwohl sich keine rechte Feierlaune einstellen wollte: Die allgemeine Nachdenklichkeit der Eltern, hervorgerufen durch eine endlose Schleife schlechter Nachrichten aus dem Fernsehen – der Krieg im Irak, die Terroranschläge in Europa –, diese Nachdenklichkeit also hatte sich merkwürdigerweise auch auf die Kinder übertragen. Sie saßen im Kinderzimmer auf dem Boden, waren leiser als sonst und halfen dem Geburtstagskind, seine Geschenke auszupacken: einen grünen Polizisten auf einem Motorrad mit mehreren Ersatzakkus, eine Plastik-Eisenbahn, ein Segelschiff mit Kanonen und Piraten und ein rotes Maschinengewehr.
    Das wertvollste Geschenk hatte Andy, der besonders Dinosaurier mochte, von seiner Tante bekommen: eine lebende Schildkröte, die sich bereits im Kinderzimmer versteckt hatte. Dort, unter dem Kleiderschrank, versuchte sie ihren Kulturschock zu überwinden. Die Kinder legten vor dem Schrank Futter aus, um die Schildkröte zu zivilisieren. Die Erwachsenen tranken in der Küche Rotwein und Bier und unterhielten sich über den Kampf der Kulturen. Die Mutter von Andy meinte, dass die Terroranschläge von einer Krise der islamischen Kultur zeugten. Der Glaube an eine fortschrittliche Entwicklung der islamistischen Staaten sei wacklig geworden, und so wurden die Gläubigen zu Fanatikern und schließlich Selbstmördern, um sich in ihrem Glauben zu bestärken. Andys Tante meinte dagegen, dass wir Europäer nicht im Stande seien, die arabischen Beweggründe nachzuvollziehen. »Ost ist Ost, und West ist West, und wir kommen nie zusammen«, meinte sie. Meine Frau, die über einige persönliche Erfahrungen mit dem Terrorismus in Tschetschenien verfügt, verdammte sicherheitshalber alle Kulturen und Zivilisationen samt ihrer Terroristen. Andys Vater, ein Bauingenieur, war der Meinung, man dürfe sich nun von den Problemen der anderen nicht mehr so abschotten. Die Erste Welt müsse die Dritte Welt nach unserem Vorbild modernisieren, um die eigene Demokratie zu retten. Besonderes wichtig seien Bildung und Aufklärung, meinte er, wir müssten auf die Bildung der neuen Generationen in den arabischen Ländern Einfluss nehmen, sie also für unsere Lebensweise begeistern.
    Die Kinder riefen uns ins Kinderzimmer: Sie hatten die Schildkröte gefangen und waren gerade dabei, sie voll zu modernisieren. Sie sollte nun ein aktives Mitglied ihrer Lebensgemeinschaft werden. Als Erstes schraubte Andy vier kleine Rädchen von seiner Eisenbahn ab und befestigte sie mit Klebeband an dem Panzer der Schildkröte. Dadurch sollte die Schildkröte auch an ihrer Bewegungsfreiheit in vollem Ausmaß teilnehmen können. Rein technisch gesehen hätte das gut funktionieren können. Die kleinen Rädchen bildeten genau den richtigen Abstand zwischen dem Reptil und dem Fußboden, sodass sie ohne große Anstrengung durch die Wohnung rollen konnte. Die derart modernisierte Schildkröte bewegte sich nun aber gar nicht mehr. Sie wirkte völlig paralysiert, also überhaupt nicht glücklich.
    »Das ist Tierquälerei!«, entsetzte sich Andys Mutter. »Eine Schildkröte ist nun mal kein Porsche, für sie ist es total unorganisch, auf Rädern zu rollen. Macht sie sofort wieder ab!«
    Andys Vater, der Bauingenieur, widersprach ihr: »Warte nur ab, die Schildkröte wird schon in den Genuss der Bewegungsfreiheit kommen und verdammt froh sein, rollen zu können! Sie braucht nur ein bisschen Zeit!«
    Wir gingen zurück in die Küche, um weiter zu trinken und über den »Clash der Zivilisationen« zu diskutieren. Nach einer halben Stunde erschien Andy in der Küche und behauptete: »Die Schildkröte rollt jetzt!« Wir gingen ins Wohnzimmer. Erstaunlich, aber wahr: Die Schildkröte raste tatsächlich durch die Wohnung. Sie nahm sogar Anlauf, zog ihren Kopf ein und knallte

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