Ich mach mir Sorgen, Mama
zur Beendigung des Streites – dass sie vielleicht zusammen den Song geschrieben hatten – wurde von beiden Parteien mit Entsetzen aufgenommen. Seitdem habe ich ein Kindheitstrauma: Das Lied »All you need is love« weckt Aggressionen in mir.
Bei den Moped-Freaks ging es ebenfalls heftig und heiter zu. Ihr Anführer Kolja ging eine Zeit lang in die gleiche Schule wie ich, bis er in der achten Klasse zwei Jahre Jugendknast bekam und dadurch in unserem Wohnbezirk zum Volkshelden wurde. Kolja schaffte es, am hellichten Tage mit seinem Moped durch das große Schaufenster des Juwelierladens Malachit zu donnern, obwohl dessen Scheibe selbst bei den erfahrensten Moped-Freaks als schwer gepanzert und unüberwindbar galt. Er benutzte die Treppe vor dem Laden als eine Art Sprungbrett und schaffte es sogar, damit in die Zeitung zu kommen: Der Artikel hieß »Kinder ohne Zukunft« und kritisierte in scharfen Worten den Verfall der Sitten und die Mängel in der Erziehungsarbeit.
Nach einem Jahr kam Kolja auf Bewährung raus. Sein Ruhm hat ihm jedoch kein Glück gebracht: Statt nach weiteren Herausforderungen zu suchen und seine Heldentaten zu mehren, indem er zum Beispiel durch das Lenin-Mausoleum düste, soff Kolja »No future« nur noch wie ein Loch. Sein Moped ließ er im Keller verstauben. Innerhalb eines Jahres verwandelte sich der hoch geschätzte Held in einen lausigen Alkoholiker, womit sein lustiger Spitzname bedrohlich wahr wurde.
Doch im Großen und Ganzen haben sich alle, die damals die Sendung Gute Nacht, ihr Kleinen nicht gesehen haben, hervorragend entwickelt. Von wegen »No future«! Heute haben sie, die damaligen Kinder der Nacht, alles unter Kontrolle. Auch in Berlin sehe ich oft Kinder, die in der Nacht herumlaufen. Neulich kam sogar zu uns in die Russendisko eine Kindergruppe. Sie haben das größte Kind als Beweis ihrer Volljährigkeit vorne aufgestellt. Doch selbst das größte, obwohl mit einer Bierflasche ausgestattet, sah maximal wie fünfzehn aus, und was hinter ihm stand, war noch kleiner und kleiner. Das letzte Kind, ein Mädchen, war schon Grundschule pur.
»Geht nach Hause«, lächelte unser Türsteher, »guckt euch lieber Sandmännchen an.«
»Wir wollen nur ein wenig tanzen«, konterte das größte Kind selbstbewusst, » Sandmännchen ist schon längst vorbei, danach gehen wir in die Disko, das machen wir immer so!«
»Dann zeigt mir eure Ausweise!«
Nach diesem Wortwechsel gaben die Kinder auf. Besonders mitgenommen wirkte die Grundschulabsolventin, die anscheinend unbedingt zur russischen Musik tanzen wollte.
»Viel Spass, Scheißdisko!«, rief dem Türsteher zuletzt noch der große Freche von der Straße aus zu.
»Geht schlafen! Morgen um sechs fängt die Schule an!«, rief der zurück.
»Morgen ist Sonntag!«, lachten sie – und zogen weiter, diese verlorenen Söhne und Töchter des Sandmännchens, auf der Suche nach anderen, noch dunkleren Kneipen mit Tanzmusik, wo man sie vielleicht nicht als Minderjährige erkannte.
»Hast du das gesehen?«, schüttelte der Türsteher den Kopf. »Ich sage dir, diese Kinder haben keine Zukunft.«
»Aber nicht doch«, entgegnete ich, »du wirst sehen – in zwanzig Jahren übernehmen sie die Stadt.«
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