Ich pfeife auf den Tod!: Wie mich der Fußball fast das Leben kostete (German Edition)
viel mehr Energie und Kraft als loszulassen und die frei werdenden Energien positiv in ein neues Leben umzulenken. Ich habe immer gedacht ich wäre gelähmt, aber Lähmung bedeutet letztendlich nur, dass nichts weitergeht und ich keine Entscheidung treffen will. Ich habe mich auf verlorener See treiben lassen, statt selbst die Ruder zu übernehmen und meinem Leben eine neue Richtung zu geben. Ich dachte auch, ich hätte meine gesamten Ressourcen verloren, dem ist aber nicht so, vielmehr sind diese temporär verschüttet und ich habe sie wiedergefunden. Wenn ich vorher zu dieser Einsicht gekommen wäre, hätte ich viel früher und leichteren Herzens meinen Beruf als Schiedsrichter aufgegeben und wäre nicht in diese Todesfalle getappt.
Ich habe das zugegebenermaßen auch nicht gleich am Anfang begriffen – aber zumindest später in der Krankheit eine zweite Chance für ein neues Lebens gesehen. Das geschah erst in der fünften Woche nach meiner Tat, nur kurz, für Minuten, dann immer länger. Ich konnte mein Schicksal annehmen und mich nach vorne wenden. Ich glaube, diese kurzen Lichtblicke haben meinen Heilungsprozess beschleunigt. Dabei habe ich mir immer versucht einzureden, dass ich nicht untergehe, denn meine Ideale bleiben mir erhalten. Selbstliebe, Selbstverwirklichung und Selbstfindungsprozess.
Ich habe gelernt, dass Verzicht und Loslassen keine Niederlage bedeuten, sondern dass sich neue Möglichkeiten öffnen, die man vorher nicht gesehen hat.
Und ich will mehr über Achtsamkeit erfahren und lernen, mein eigenes Ich mit all meinen Fehlern zu akzeptieren, Schwächen und Grenzen nicht zu verdrängen, sondern zu verinnerlichen und angemessen zu verarbeiten. Dazu gehört auch rechtzeitiger Verzicht, wenn ich fühle, dass etwas mehr Schaden anrichtet als es meiner Seele Nutzen bringt: Bernhard Dietz, ein ehemaliger Kapitän der Nationalmannschaft in den 70er Jahren, der mehr als 500 Bundesligaspiele absolviert hat, erzählte mir mal, dass er keine Lust mehr auf das Profigeschäft hätte. Er hat einfach aufgehört, auf viel Geld verzichtet und sich voller Freude nur noch auf die Jugendarbeit konzentriert. Ich habe das damals nicht verstanden. Heute gehört Bernhard Dietz zu meinen neuen Helden. Ich habe gelernt auch mal über meine eigenen Dummheiten zu lachen, mich nicht immer so schrecklich ernst zu nehmen – denn die Selbstironie ist auch ein Zeichen von Souveränität und Gelassenheit der Seelenwelt. Nicht dauernd zu bewerten, sondern auch mal zu sagen, es ist so wie es ist und es ist gut, dass es so ist. Wer gelassen ist, hat die höchste Stufe des Menschenseins und der Weisheit erreicht. Davon bin ich noch weit entfernt – aber ich erlebe große Freude, diesen Weg anzustreben, endlich Gelassenheit und Frieden zu finden, anderen Menschen zu helfen und mir helfen zu lassen, wenn ich Hilfe brauche.
Nun stehe ich aufrichtig zu meinen Grenzen in der Gesellschaft und leite aus meinen früher gefühlten Schwächen genauso verborgene Stärken ab, die ich mit vollem Bewusstsein genieße und erlebe. Mein Grundsatz lautet somit nicht »Zeit ist Geld«, vielmehr »Zeit ist Leben«. »Sein um zu sein, statt tun um zu sein«, ist eine sehr schöne Lebensweisheit.
Meine Scham nach meinem Suizidversuch habe ich nicht verdrängt, sondern verarbeitet und ihr die erforderliche Akzeptanz geschenkt. Ich habe diesen in meine Biografie integriert, da ich nun eine Lebenserfahrung besitze, die Menschen sonst erst in sehr hohem Alter erfahren, wenn sie viele Hürden gemeistert haben und Schicksalsschläge notgedrungen in ihrem Leben erleiden mussten.
Ich bin geheilt und zurück im Leben. Ein Leben, das ich jeden Tag umarme – eben weil ich so nahe am Tod gewesen bin. Ich kann daher sagen, dass der Tod seinen Schrecken verloren hat – und das Leben das ist, was mich so unendlich fasziniert und mit Liebe erfüllt, dass ich heute sagen kann:
Ich pfeife auf den Tod!
Danksagung
In all meinem Unglück habe ich auch großes Glück gehabt, weil mir Menschen beistanden, die mich gehalten und mich aufgefangen haben. Mir fehlte damals die Kraft, mich bei allen zu bedanken. Und es war auch die Scham, die mich hinderte, mich über die ehrliche Anteilnahme einfach zu freuen. Ich möchte daher nochmals allen danken, die bei mir waren, an mich gedacht haben, die mir geschrieben oder ein Zeichen ihres Mitgefühls geschickt haben. – Menschen, die mir ihre Nähe geschenkt haben, in einer Zeit, als ich mich völlig alleingelassen
Weitere Kostenlose Bücher