Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
Und wir spielten auf dem Bahndamm im Loehrsweg, obwohl das natürlich verboten war. Wir waren richtige Rabauken.
Hintenrum in der Haynstraße lag der Zugang zur alten Straßenfegerei, wo die Müllabfuhr ein Depot für ihre Wagen hatte: einen großen Hinterhof mit Bäumen und Büschen in unserem Straßenblock. Von hier aus konnte ich unseren Balkon sehen, auf dem die Lebensmittel standen und wo Mutter das Geschirr und die Wäsche – und im Sommer auch uns – in der Schüssel wusch. Dieser verwilderte Hof mit seinen vielen Ecken und Verstecken war unser Paradies. Hier spielten wir Räuber und Gendarm und vergaßen die Zeit, vollkommen in unsere Abenteuer versunken. Die Straßenfegerei – das war das Größte überhaupt.
Neben den vielen Kindern, mit denen ich auf der Straße spielte, wünschte ich mir eine Freundin, eine enge Freundin, mit der ich alles machen und zu der ich mit raufgehen konnte. Denn bei uns in der Wohnung gab es dafür keinen Platz und keine Spielsachen. Tatsächlich fand ich so ein Mädchen in der Nachbarschaft. Wir verbrachten viel Zeit miteinander und waren richtig eng. Trotzdem erinnere ich mich nicht an ihren Namen. Für mich ist sie heute die »Freundin ohne Namen« und sie ist ganz wichtig in meinem Leben.
Wir hatten ein Lieblingsspiel, das hieß Geschichtenball. Ein Spiel, das wir selbst erfunden hatten, als mein großer Wunsch – ein Pilzball – endlich in Erfüllung ging. Dazu stellten wir uns vor einen Betonpfeiler in unserer Straße, der etwa so groß war wie wir selbst. Ich warf den roten Ball mit den weißen Punkten dagegen und fing ihn wieder auf, immer wieder. Dabei erzählte ich eine Geschichte, die ich mir gerade ausdachte: »Es war einmal eine Familie. Die hatten eine Tochter, die hieß Gertrude, und einen Wagen, mit dem sie immer aufs Land fuhren …« Wenn mir der Ball herunterfiel, war meine Freundin dran und erzählte ihre Geschichte. Und wenn ich wieder an der Reihe war, ging es mit meiner weiter: »Also die fuhren aufs Land und da kam der Knecht …« Ich konnte erzählen ohne Ende.
Heute denke ich, dass alles, was ich bin, auf dieses Spiel zurückgeht, auf Geschichtenball: die unendliche Fantasie, das Immer-wieder-neu-Anfangen, das Sich-ganz-Einlassen auf eine Sache, und alles aus dem Stegreif.
Eines Tages fragte meine Freundin, ob ich nicht Lust hätte, mal mit ihr raufzugehen. Ich selbst hätte mich nie getraut, sie einfach mit nach Hause zu bringen. Ich schämte mich so, dass wir nur anderthalb Zimmer hatten und eine Waschschüssel, auch wenn immer alles schön aufgeräumt und sauber war. Die Kluft zwischen uns und den Nachbarn war zu groß, wir wohnten arm in einer exquisiten Gegend. Aber meine Freundin nahm mich mit in ihre riesige schöne Wohnung. Sie hatte ein eigenes Zimmer, und während ich noch dastand und staunte, holte sie etwas hervor, etwas Glänzendes, Seidiges– ihre Spitzenschuhe. Das wars. Das war der Augenblick. Es waren rosa Schuhe mit langen, schimmernden Bändern. Ich sah zu, wie meine Freundin sich Watte um die Zehen wickelte und hineinschlüpfte, und war hingerissen. Es dauerte keine Minute, da nahm ich ihr die Schuhe weg und zog sie selbst an. Mir war, als würde mich eine Fee mit ihrem Zauberstab berühren und sagen: »Bing – du bist es!« Wie ein Leuchten war das, ein großes Wettleuchten. Ich rannte nach Hause und rief: »Mami, ich will in die Ballettschule!«
Meine Eltern sagten zuerst gar nichts, sondern guckten sich nur bedeutungsvoll an. Ich wusste nicht, was los war. Warum schauten sie so ernst? Dann setzten wir uns hin und meine Mutter erzählte mir, was ich bis dahin gar nicht wusste: dass sie selbst getanzt habe und was für ein schwerer und entbehrungsreicher Beruf das sei. »Wenn du als Tänzerin nicht alles aufgibst, gehst du unter«, sagte sie. Ich spürte deutlich ihre Angst, verstand aber nicht, wovor sie mich beschützen wollte. Ich sah gar keine Gefahr. Ich wollte doch nur tanzen. Und das wollte ich so sehr, dass meine zähe Art auch hier durchkam. Tagelang sprach ich von nichts anderem, bettelte immer nur, ich wolle zum Ballett. Ich traktierte und zwiebelte meine Eltern förmlich. Mein Vater gab als Erster nach: »Nu lasse det doch ers’ ma probiern. Aufhörn kann se ja immer noch.« Meine Mutter war zögerlicher, aber nach ein paar Tagen sagte auch sie: »Na ja, gut, versuchen wirs.«
Ich entschied mich für die Schule von Anneliese Sauer, meine Eltern kauften mir ein weißes Ballettröckchen und nun ging ich
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