Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
Vorwort
»Tut eure Pflicht so lange, bis sie eure Freude ist.«
George Balanchine, Choreograf und Gründer des New York City Ballet
Es war ein bitterkalter Märztag, im Frühjahr 2013, als es einfach nicht warm werden wollte. Ich hatte mich in meinen alten Pelz gehüllt, viele Schichten übereinandergezogen und saß im Zug nach Berlin. Im Koffer lagen meine schönsten Kleider – ausgewählt für das Shooting zum Titelfoto meines Buches. Noch feilten wir an den Kapiteln und wählten die passenden Bilder aus. Es waren bewegende Wochen für mich. Viele Erinnerungen wurden wach und trieben mich um, viele alte Gefühle drängten nach oben, gerade in Momenten der Ruhe. Dann zog ich mein Notizheft hervor und schrieb meine Gedanken auf. Erstaunlich, wie sich nach Jahren der Blick auf Ereignisse wandelt, wie sich in den Wendepunkten eines Lebens Muster finden lassen.
Berlin, meine alte Heimat, empfing mich mit eisigem Wind. Ich zog meinen Schal fest um mich und stieg in ein Taxi zum Studio. Dort erwartete mich mein Fotograf Straulino, und kaum war ich eingetreten, umgaben mich Wärme und Herzlichkeit. Ich wollte mich aus meinem Mantel schälen, doch er rief: »Nein! Bleib so! Du siehst aus wie eine Zarin.« Und schon machte er das erste Bild.
Straulino sieht mich und hat gleich eine Idee für eine Inszenierung. Er kennt mich und spielt mit all meinen Facetten. Weil ich diese Erfahrung schon einmal gemacht hatte, sollte er das Titelbild schießen. Er hat mein Vertrauen nicht enttäuscht. Es war ein wunderbarer Tag, nicht nur weil die Arbeit großen Spaß machte. Dieser Tag führte mir vor Augen, was ich in den vergangenen zehn Jahren erreicht habe, was ich mir mein Leben lang erarbeitet habe und wovon ich in diesem Buch erzähle. Vom Tanz, der Show, dem Theater und dem Modeln. Wo immer ich auftrete, lege ich meine ganze Erfahrung, mein ganzes Können in die Aufgabe. Das harte Training, das meine Muskeln gestrafft hat, den Mut zur Pose, den mich die Bühne lehrte, und den Witz und die Selbstironie der Revue.
Wenn ich das Bild heute betrachte, sehe ich mich und gleichzeitig meine ganze Geschichte. Ich sehe all die Phasen und Brüche meines Lebens. Ich denke an die Eltern, Freunde und Kollegen, die mich gefördert und geprägt haben. Die an mich glaubten. Mit diesem Buch möchte ich ihnen danken.
Und ich möchte meinen Lesern etwas geben, was heute immer wichtiger wird. Biografien sind nicht mehr so geradlinig wie früher. Wer jetzt jung ist, muss wieder und wieder aufstehen und von vorn anfangen, im Beruf, in der Liebe und in der Familie. Er muss lernen, Niederlagen anzunehmen und hinter sich zu lassen. Ich hätte all die Energie für meine Neuanfänge niemals aufgebracht, wenn ich nicht über Tiefschläge hinweggehen könnte. Selbst aus schlechten Erfahrungen nehme ich etwas Gutes mit. Selbst aus dem Scheitern gehe ich optimistisch hervor.
Was ich erlebt habe, mag ungewöhnlich sein für meine Generation, doch die, die nach mir kommen, teilen mein Schicksal. Sie müssen sich noch im Alter immer wieder neu erfinden. Ihnen möchte ich sagen: Habt keine Angst! Vor euch liegt ein Abenteuer, das es auszukosten gilt. Ihr braucht nur den Mut, immer neue Herausforderungen anzunehmen, den Instinkt, die richtigen Gelegenheiten zu ergreifen, und die Bereitschaft, mit Fleiß und Leidenschaft an die Arbeit zu gehen. Es lohnt sich.
— BALLETT —
Das Zille-Kind
Ich war ein Zille-Kind, von Anfang an. Schon in meinen ersten Erinnerungen nannte mein Vater mich so: »Püppi, du bist n richtijes Zille-Kind.« Was er damit meinte, trifft im Kern noch heute auf mich zu. Denn ich war schon ganz früh allein unterwegs in unserem Berliner »Milljöh«, wie die Kinder auf den Zeichnungen von Heinrich Zille, die schmuddeligen Gören auf den Straßen, die überall dabei sind, wo etwas los ist. So ein Gör war ich. Ich trieb mich rum, spielte gern im Dreck, war ständig auf der Suche nach Neuem und hatte keine Angst. Ich war ein Abenteuerkind, kaum dass ich laufen konnte. Und dieser Abenteuergeist prägt mich bis heute. In all den Jahren meines Lebens hat er mich angetrieben.
Meine Eltern stammen beide aus Berlin, mein Vater Kurt aus einer wohlhabenden Familie mit eigenem Restaurant, Zur Kaiserburg , meine Mutter Gisela aus Arbeiterverhältnissen. Sie lernten sich dort kennen, wo sich ihr Leben abspielte: im Theater. Meine Mutter hatte die renommierte Ballettschule von Victor und Tatjana Gsovsky besucht und war als Tänzerin engagiert
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