Ich träume deutsch
mein Baba arbeiten sollte. Einer der Männer war ein Landsmann von uns, der von den Neuankömmlingen wie ein Heiliger verehrt wurde, denn alle waren erleichtert zu sehen, dass es in Deutschland bereits Türken gab, und froh darüber, dass sie von jemandem abgeholt wurden, der sie verstand.
„Ich werde Bruder Mustafa nie vergessen, denn er war ein Stück Heimat in der Fremde“, sagte meine Anne später noch oft mit Tränen in den Augen.
Wir wurden in einem Mehrfamilienhaus untergebracht und bekamen eine Zweizimmerwohnung, die bereits eingerichtet war.
Die ersten Wochen und Monate müssen eine ganz schlimme Zeit für unsere Eltern gewesen sein. Mein Vater hatte einen Teil seines ersten Gehalts im Voraus bekommen, aber er wusste nicht einmal, wo man etwas zu essen einkaufen konnte.
Jahrelang konnten meine Schwester und ich nicht genug von den Geschichten aus dieser Anfangszeit bekommen. Meine Lieblingsgeschichte war die vom ersten Einkauf meiner Eltern:
Sie zeigten auf alles mit dem Finger und sprachen türkisch. Meine Mutter zeigte auf Bananen. „Muz“, sagte sie auf Türkisch und die Verkäuferin antwortete: „Banane?“
„Banane“ heißt auf Türkisch „mir egal“.
Meine Mutter zeigte erneut auf die Bananen und die Verkäuferin sagte wieder: „Banane“.
|9| Meine Eltern fühlten sich beleidigt und liefen einfach weiter.
Viele Geschichten, die uns Anne von früher erzählte, waren schön und lustig. Aber wenn wir lachten, sagte sie immer: „Heute lachen wir darüber, damals haben wir geweint.“
In einer Sache waren sich alle türkischen Gastarbeiter einig: Sie wollten auf jeden Fall nur zwei Jahre in Deutschland bleiben. Nur so lange, bis sie sich ein eigenes Haus leisten konnten, wie unsere Eltern auch.
Wenn man unseren Eltern damals gesagt hätte, dass die geplanten zwei Jahre irgendwann zu zwanzig Jahren werden würden, wäre meine Anne wahrscheinlich sofort umgekehrt.
Sei stolz, eine Türkin zu sein!
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz als Kind gehört habe. „Stolz“ ist glaube ich das wichtigste Wort bei uns Türken. „Wer keinen Stolz mehr hat, kann sich gleich begraben lassen“, sagte mein Vater immer.
Meine vier Jahre ältere Schwester Mine ging inzwischen bereits in die Schule. Ich war erst fünf und noch zu jung für die Schule. Weil ich nicht katholisch war, wurde ich auch nicht in den Kindergarten aufgenommen. Aber da wollte ich sowieso nicht hin. Meine Anne und ich gingen manchmal zum Bäcker und kamen auf unserem Weg an diesem Kindergarten vorbei. Über der Eingangstür hing ein großes Kreuz aus Holz. Darauf war ein Mann mit einem Dornenkranz auf dem Kopf, und in seinen Händen und Füßen steckten Nägel. Das sah ganz schrecklich aus.
|10| Anne beruhigte mich und erklärte: „Das ist der Prophet Isa. Du musst keine Angst haben. Er war ein guter Prophet und wurde von Allah vor Mohammed auf die Erde geschickt. Die Menschen wollten nicht an ihn glauben und bestraften ihn mit dem Tod!“
Wir gingen auch mal in den Kindergarten hinein, um uns vorzustellen,aber eine „Muselmanin“ wollten die Nonnen dort nicht aufnehmen. Ich freute mich darüber, da es mir zu Hause alleine mit Tekir, unserem türkischen Kater, viel besser gefiel.
Wir wohnten immer noch in dem Mehrfamilienhaus, das uns bei unserer Ankunft zugewiesen worden war, und waren ganz stolz auf unsere Zweizimmerwohnung mitten in der Stadt. Die meisten türkischen Familien hatten viel kleinere Wohnungen als wir. Das Einzige, was wir uns sehnlichst wünschten, war ein Fernseher. Baba hatte uns zwar versprochen, so bald wie möglich einen zu kaufen, aber leider konnten wir uns noch keinen leisten.
Onkel Ali, der Freund von unserem Baba, hatte für seinen Fernseher nichts bezahlt. Onkel Ali besaß ganz viele Dinge, die wir nicht hatten, und er fuhr mehrmals im Jahr mit seinem Ford Taunus in die Türkei. Onkel Ali war ein guter Geschäftsmann und Anne war von seinen Geschichten immer ganz begeistert.
Baba sagte: „Ali ist eine Müllratte und hat überhaupt keinen Stolz. Er ist ein Eşoleşek!“
„Na und? Er versteht sein Geschäft und wird sicher in ein paar Jahren für immer in die Heimat zurückkehren, wovon wir nur träumen können“, antwortete Anne und vergoss dabei jedes Mal ein paar Tränen.
Wir hatten viele Freunde und bekamen oft Besuch. Manchmal kamen so viele, dass die Frauen im Schlafzimmer auf |11| dem Bett saßen und die Männer im Wohnzimmer auf dem Boden.
Meistens war es lustig und
Weitere Kostenlose Bücher