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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Reichsmark aus. Ellen Wengler wollte ihr Geld nicht unsicher liegen lassen und bot es mir als langfristige Hypothek. Von Anfang an schien alles so unwahrscheinlich günstig für uns, daß wir nach all dem schweren Unglück, all den hundert Enttäuschungen gar nicht daran glauben wollten. Aber es entwickelte sich rasch und günstig.
    Inzwischen war mit Prätorius geplant und gerechnet worden. Ganz wird er mit dem jetzt zur Verfügung stehenden Bargeld nicht auskommen; den Rest zahle ich in Monatsraten. Sowie ich die Miete hier und die ungeheuren Autokosten (über 100 M im Monat) los bin, bin ich sehr solvent. Es wird vorderhand der Mittelteil des Gesamthauses gebaut, immerhin ein in sich geschlossenes Häuschen mit großen drei Zimmern und sehr reichlichem »Zubehör«. Eine drollige Schwierigkeit ergab sich: Die Bauvorschriftendes Dritten Reiches verlangen »deutsche« Häuser, und flache Dächer sind »undeutsch«. Zum Glück fand Eva rasch Freude an einem Giebel, und so wird das Haus also einen »deutschen Giebel« bekommen. Wenn alles Weitere klappt – und ich bin immerfort hinter Prätorius her –, haben wir die Baugenehmigung in vierzehn Tagen und fangen dann gleich an. Am 1. Oktober soll eingezogen werden. Welch eine Erlösung! Und wie sonderbar gefügt! Alle meine geplanten Bemühungen scheiterten, und nun kommt dies ganz Unvermutete. Und kommt – höchste Ironie! – durch ein Gesetz der Nationalsozialisten. Ich sagte am Telefon zu Annemarie lachend: »Ich habe Baugeld durch den Führer bekommen, wahrhaftig durch den Führer!«
    Ich werde immer fatalistischer und gewöhne es mir immer mehr ab, über die letzten Dinge nachzudenken. Aber wie gut hat es der naive Fromme. Er hätte an meiner Stelle in all der bösen Zeit auf Gott vertraut und ihm jetzt gedankt. Ich kann beides nicht.
    Den zweiten mächtigen Auftrieb gab uns die »Röhmrevolte«. (Wie kommen historische Bezeichnungen zustande? Wieso Kapputsch ? Aber Röhmrevolte ? Klanglich?) Gar kein Gefühl für die Besiegten, nur die Wonne, a) daß man sich gegenseitig auffrißt, b) daß Hitler nun wie ein Mann nach dem ersten schweren Schlaganfall ist. Als die nächsten Tage alles ruhig blieb, war ich freilich deprimiert. Aber dann sagten wir uns doch: Dieser Schlag ist nicht zu überwinden. Zumal nun auch die nackte Not der Mißernte bei völligem Staatsbankrott und Unmöglichkeit ausländischen Nahrungsbezuges vor der Tür steht.
23. Juli, Montag
    Philologie der Nationalsozialisten: Göring sagte in einer Rede vor dem Berliner Rathaus: »Wir alle, vom einfachen SA-Mann bis zum Ministerpräsidenten, sind von Adolf Hitler und durch Adolf Hitler. Er ist Deutschland.« Sprache des Evangeliums. – Etwas vom enzyklopädischen Stil, abgewandelt, ist jetzt auch in den Edikten der Regierung. Sie deutet an, sie droht, sie bedroht –wen? Das Publikum in Angst gehalten, einzelne oder Gruppen (welche?), unmittelbar bedroht.
27. Juli, Freitag
    Gestern schloß ich mein Semester, wie ich es begonnen hatte: d. h., ich wartete vergeblich auf die wieder verhinderten Hörer. Ich habe also in diesem Semester meine Übungen vor ein oder zwei Leuten gehalten, ebenso mein Kolleg. Im ganzen hatte ich zwei Studentinnen, Fräulein Heyne und Fräulein Kaltofen, einen Studenten und einen SA-Mann (höchst unmilitaristischer Natur) Heintzsch. Wie nun weiter? Ich warte wie ein kleiner Angestellter, ob ich am 1. 10. Kündigung erhalte.
    Auch die Studie über die Sprache des 3. Reiches bewegt mich immer mehr. Literarisch auszubauen, etwa »Mein Kampf« lesen, wo dann die (teilweise) Herkunft aus der Kriegssprache deutlich werden muß. Auf die Kriegssprache (»Arbeitsschlacht«) weist Eva hin.
4. August, Sonnabend vormittag
    Zuerst hat uns das Geschehene, Eva fast noch mehr als mich, mit äußerster Bitterkeit und fast Verzweiflung erfüllt. Am 2. 8. um neun Uhr stirbt Hindenburg, eine Stunde später erscheint ein »Gesetz« der Reichsregierung vom 1. 8.: Das Amt des Präsidenten und des Kanzlers wird in Hitlers Person vereint, die Wehrmacht wird sofort auf ihn vereidigt, und um halb sieben abends leisten die Truppen in Dresden den Eid, und alles ist vollkommen ruhig, unser Schlächtermeister sagt gleichgültig: »Wozu erst wählen? Das kostet bloß einen Haufen Geld.« Der vollkommene Staatsstreich wird vom Volk kaum gemerkt, das spielt sich alles lautlos ab, übertönt von Hymnen auf den toten Hindenburg. Ich möchte schwören, daß aber Millionen gar nicht ahnen, was für ein

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