Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
für eigentlicheund für meine Religiosität. Welch Mangel an Ehrfurcht, zu glauben und nicht zu glauben! Beides beruht auf einem frechen Zutrauen zur menschlichen Fassungsmöglichkeit.
Wir werden heute abend ganz allein sein. Ich fürchte mich ein bißchen davor. Trost und Hilfe kommt uns immer von unsern beiden Katerchen. Ich frage mich allen Ernstes tausendmal, wie es um deren unsterbliche Seelen bestellt ist.
Das historische Erlebnis dieses Jahres ist unendlich viel bitterer und verzweiflungsvoller, als es der Krieg war. Man ist tiefer gesunken.
1934
16. Januar, Dienstag
Georg schrieb aus St. Moritz. (Gehört unter die aufzubewahrenden Zeitbriefe.) Zwei seiner Söhne schon in Cambridge und Chicago. Nun ist er in Ruhe mit den beiden andern in St. Moritz zusammen. Sie gehen mit ihren Frauen nach USA, der Arzt und der Ingenieur; sie haben Aussichten und Einwanderungserlaubnis, sie werden automatisch nach fünf Jahren amerikanische Bürger. Georg rechnet also fest mit der Dauer unseres Zustandes. Von mir hofft er – in Ahnungslosigkeit über die Möglichkeiten meines Berufes –, ich könnte vielleicht eine Professur in Frankreich erhalten! (Eulen nach Athen!) Wenn ich zur Umstellung und zum Abwarten Geld brauche, will er mir ein kleines Kapital zu 4 Prozent leihen. Er selbst will sich im Sommer irgendwo in Süddeutschland niederlassen. Der Brief ist bei aller Vorsicht und erzwungenen Ruhe sehr melancholisch und etwas pathetisch. Er ist unterzeichnet: »in brüderlicher Treue und im Angedenken an den verstorbenen Vater«. Ich habe noch nicht geantwortet, weil ich nicht ins Ausland schreiben mag. –
27. Januar
Schreiben an den Prof. Klemperer: »Das Ministerium hat beschlossen, Ihre Bestellung zum Mitglied der Prüfungskommission … mit sofortiger Wirkung aufzuheben.« 17. 1. 34. Die Wirkung ist schon seit dem Frühjahr vorhanden. Fragt sich, wohin sie anwachsen wird.
Schreiben Teubners: ob ich nicht einen andern Verlag im Ausland suchen will; er könne für mich nicht mehr eintreten. DasSchreiben sowie meine Antwort (Kopie) kommt in die Sammlung meiner Zeitbriefe.
Gestern nachmittag nach Monaten einmal wieder im Kino: harmlose und lustige Filmoperette »Victor und Victoria«. Der Inhalt ganz anspruchslos lustig, die Schauspielkunst, die Filmtechnik ganz hervorragend – zwei Stunden erfreulichster Ablenkung. Aber hinterher natürlich bei uns beiden große Wehmut und Bitterkeit. Mit welcher Selbstverständlichkeit waren wir früher zwei- und dreimal wöchentlich im Film, und wie leicht und erfüllt floß uns früher das Leben! Und jetzt … Wir hätten uns früher nicht vorstellen können, wie man auch nur mit einem Viertel der Sorgen und Miseren leben könnte, die jetzt beständig auf uns lasten. –
15. Februar, Donnerstag gegen Abend
Heute war die erste Sitzung der ganzen Fakultät unter dem »Führer« Beste.Aufgehobene rechte Hände, ein Studentenvertreter, der a. o. Prof. Scheffler in SA-Uniform, der a. o. Prof. Fichtner mit dem Parteiabzeichen – und alles nur Formalität und Äußerlichkeit. Aber mir wird von diesem Händeaufheben buchstäblich übel, und daß ich mich immer wieder daran vorbeidrücke, wird mir noch einmal den Hals brechen. – Wahrheit spricht für sich allein – aber Lüge spricht durch Presse und Rundfunk. –
2. März, Freitag abend
Das böse Semester schloß ich am Mittwoch. Die vorletzte Corneille-Übung hielt ich mit der »jüdischen Quote«, der kleinen Isakowitz, allein, die letzte mit ihr und einem jungen Menschen ab, der nun sein Staatsexamen bei Wengler macht. In der Montagsübung und selbst im Montagskolleg sah es nicht viel anders aus, vier bis fünf, neun bis zehn Leute. Das verleitete immer wieder zu subjektiven Abschweifungen, Intimitäten, Unvorsichtigkeiten, hatte aber auch seinen Reiz. Ich sprach halb und halb vor Gesinnungsgenossen, ich hatte immer das Gefühl, ein paar Junge sozusagen mit Schutzimpfungen zu versehen oder zuBazillenträgern zu machen. Den Arm habe ich nie gehoben. – Wie lange werde ich dieses Spiel fortsetzen müssen, wie lange fortsetzen können? –
19. März
Evas Zustand hat sich ein bißchen gebessert. Die durchgreifende Behandlung der Zähne wurde nach Vornahme der dringendsten Reparaturen für ein paar Monate vertagt, und mit dem beginnenden Frühling hat sie ihren Gartenbau in Dölzschen aufnehmen können. Natürlich kostet dieser Gartenbau sehr viel Geld: Autofahrten, tagelange Arbeiterbeschäftigung, die Stunde zu 70 Pf,
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