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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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sitzt wieder fest im Sattel. Es ist schwer, nicht zu verzweifeln. Aber die starke allgemeine Gärung ist nach wie vor da.
    Den Parkhügel, durch den ich fast täglich von der Stadt zu uns heraufsteige, nenne ich meinen katholischen Berg. Immer gehe ich langsam, immer mit schwerem Atem, oft mit Schmerzen, nie ohne die Frage: Wie oft noch?
    Der Voltaire ist fertig, das übrige 18. Jahrhundert liegt dunkel vor mir. Geldsorgen, Wirtschaftsmühen unverändert. –
    Sprache des 3. Reichs: Die ewigen Weinofferten sind selten »Heil Hitler« unterzeichnet, meist: »mit deutschem Gruß«. Das ist eine diskrete Art, die deutschnationale Gesinnung anzudeuten, die sie bei ihren Kunden, Professoren und höheren Beamten, voraussetzen. Am 7. Dezember war eine Offerte der »Ferd. Pieroth’schen Weingutsverwaltung Burg Lagen bei Bingen am Rhein« unterschrieben: »Mit freundlicher Empfehlung ergebenst«. Das ist eine Heldentat und eine erste Schwalbe. – Kempinski zeigt Delikateßkörbe an: »Korb Preußen 50 M, Korb Vaterland 75 M«.
30. Dezember, Sonntag
    Was hat mir nun 1934 gebracht?
    Das Häuschen mit vieler Freude und vielen Sorgen. – Evas im ganzen gehobene Stimmung. – Das stärkere Gefühl der eigenen Todesnähe, des schweren Gealtertseins. – Die ersten 72 Seiten meines achtzehnten Jahrhunderts, vorher die Delillestudie. – Den unsäglichen Druck und Ekel des fortdauernden Hakenkreuzregimes.
    Ich habe im Sommer auch noch acht Rezensionen für die DLZ geschrieben, wovon nur eine (Loepelmann, »Diderot«) zurückgegeben wurde, weil ihr Verfasser im Ministerium sitzt und nicht gerügt werden darf.
    Ich sehe: Im vorigen Jahresrésumé (das eigentlich viel trauriger ist als dieses) rühmte ich die Katerchen. Das muß auch hier geschehen.

1935
9. Januar, Mittwoch
    Ich lebe ganz fatalistisch von Tag zu Tag. Mein Kolleg nach den Ferien hielt ich vor drei Leuten (jenen drei), das Seminar vor einem, die Dantevorlesung vor den zwei Hospitantinnen. Es ist sehr erbärmlich. Dabei kostet mich dieser Betrieb drei volle Tage meiner Schreiberei. Und am Mittwoch hat sich dann soviel Müdigkeit und Kleinkram aufgesammelt, daß auch dieser vierte Tag verlorengeht. So kriecht mein Opus lust- und hoffnungslos schneckenartig.
    Wir hatten zu Besuch hier: am 4. 1. die vier »anständigen« Köhlers, am 5. 1. Alexis Dember, der in Prag seinen Doktor der Physik macht, am 6. 1. nach sehr langer Pause Annemarie. Sie sprach mit besonderer Erbitterung von den zwangsweisen Sterilisierungen, die oft auch durchgeführt würden, wo sie unnötig und unangebracht seien.
16. Januar, Mittwoch
    Isakowitz – er nimmt uns schon üblicherweise nach der Behandlung in seinem Auto bis zum Bahnhof mit, wo Eva eine Suppe ißt, heute nach abgenommener Brücke ziemlich zahnlos – drückte wieder die Stimmung der Judenheit aus, und heute auch eigentlich die meine. Tiefste Depression, noch tiefer als im August bei Hindenburgs Tod. Die 90 Prozent Saarstimmen sind doch wirklich nicht nur Stimmen für Deutschland, sondern buchstäblich für Hitlerdeutschland. Damit hat Goebbels schon recht. Es hat ja nicht an Aufklärung, Gegenpropaganda, Freiheit der Wahl gefehlt. Wahrscheinlich halten wir, die wir von Gärungsprechen, unsere Wunschträume für Wahrheit und überschätzen die vorhandene Gegnerschaft aufs äußerste. Auch im Reich wollen 90 Prozent den Führer und die Knechtschaft und den Tod der Wissenschaft, des Denkens, des Geistes, der Juden. Ich sagte: Warten wir, ob nicht jetzt, da die Außenpolitik nicht mehr in Frage kommt, der Rechtsumschwung einsetzt. Bis Ostern gebe ich mich nicht geschlagen. Aber es fehlt mir der Glaube an meine Worte.
7. Februar, Mittwoch
    Am 24. 1. waren wir einmal (höchste Seltenheit jetzt) im Kino. Ein Kiepura-Film (»Mein Herz ruft nach dir«), musikalisch und inhaltlich ärmer als seine andern Filme, dennoch sehr hübsch. Ich bin so ausgehungert nach Musik. Bei Blumenfelds hören wir jetzt immer gute Grammophonplatten; neuerdings läßt Eva auch manchmal, wenn Wieghardts bei uns sind, unsere alten Schlagerplatten laufen. Diese Tangos und Niggerlieder und anderen internationalen und exotischen Dinge aus den Jahren der Republik haben jetzt geschichtlichen Wert und erfüllen mich geradezu mit Rührung und Erbitterung. Es herrscht Freiheit in ihnen, Weltsinn. Damals waren wir frei und europäisch und menschlich. Jetzt –
23. März, Sonnabend
    Hitler hat die allgemeine Wehrpflicht proklamiert, das Ausland protestiert lendenlahm und

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