Identität (German Edition)
seinen Augen nicht, als befürchtete er, an einer durch Schlafmangel induzierten Dyslexie zu leiden. Aber nein. Laut einem der Straßenatlanten, die er gekauft hatte, war «Tsiigehtchic» ein Gwich’in -Wort, das «Öffnung des Eisenflusses» bedeutete, und angeblich hatte er jetzt den Zusammenfluss von Mackenzie und Arctic Red River erreicht.
WILLKOMMEN IN TSIIGEHTCHIC!
Gelegen an der Stätte eines traditionellen Fischfanglagers der Gwich’in. Im Jahr 1868 gründeten die Oblaten hier eine Mission. 1902 wurde hier ein Handelsposten eingerichtet. Der in Tsiigehtchic stationierte Constable der Royal Canadian Mounted Police Edgar «Spike» Millen wurde bei der Schießerei vom 30. Januar 1932 im Rat-River-Gebiet vom wahnsinnigen Trapper Albert Johnson getötet. Die Gwich’in haben nach wie vor eine enge Beziehung zum Land. Das ganze Jahr über wird Netzfischerei sowie die traditionelle Methode der Dörrfisch- und Dörrfleischherstellung betrieben. Im Winter gehen Trapper in den Wäldern auf die Suche nach wertvollen Pelztieren.
GENIESSEN SIE IHREN AUFENTHALT IN UNSERER GEMEINDE!
Er artikulierte den Text lautlos mit, wobei seine aufgesprungenen Lippen dabei immer wieder aneinander kleben blieben. « T-s-i-i-g-e-h-t-c-h-i-c », flüsterte er, und genau in dem Moment begann sich ein kalter Gedanke in seinem Hinterkopf zu entfalten.
Was mache ich eigentlich?, dachte er. Warum mache ich das?
Die Fahrt fühlte sich inzwischen mehr und mehr wie eine Halluzination an. Irgendwann auf der Strecke hatte die Sonne aufgehört, auf- und unterzugehen; sie schien sich nur noch minimal über dem Himmel hin und her zu bewegen, aber sicher war er sich da auch nicht. Auf diesem Abschnitt des Dempster Highways war die unbefestigte Fahrbahn mit einem silbrig weißen Pulver bestreut. Kalk? Das Pulver schien zu leuchten – aber andererseits leuchtete in diesem verrückten Sonnenlicht alles: Das Gras und der Himmel und selbst der Erdboden fluoreszierten, als glühten sie von innen her.
So saß er da am Straßenrand im Auto, den Atlas vor sich auf dem Lenkrad aufgeschlagen, auf dem Rücksitz ein Haufen Kleidungsstücke und die Kartons voll mit den Papieren und Notizheften und Tagebüchern und Briefen, die er im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Er trug eine Sonnenbrille und fröstelte leicht, und sein schütterer Bart war gelblich braun: die Farbe eines Kaffeeflecks. Der CD-Player in seinem Auto war defekt, und das Radio gab nur eine verschwommene Mischung aus atmosphärischem Rauschen und fernen, unverständlichen Stimmen von sich. Handy-Empfang gab’s natürlich keinen. Am Rückspiegel hing ein Lufterfrischer in Gestalt eines Tannenbaums und trudelte im Aufwind des Gebläses.
Ein Stück weiter, inzwischen nicht mehr allzu weit, erwarteten ihn die Stadt Inuvik und das breite Flussdelta, das in den Arktischen Ozean führte, und auch – wie er hoffte – sein Zwillingsbruder, Hayden.
4
DER MANN SAGTE: «Oberhalb des Handgelenks? Oder unterhalb des Handgelenks?»
Er hatte eine schläfrige, fast emotionslose Stimme – die Art von Stimme, die man zu hören bekommen mochte, wenn man die Kunden-Hotline einer Softwarefirma anrief. Er sah Ryans Vater ausdruckslos an.
«Ryan, ich möchte, dass du deinem Vater sagst, er soll Vernunft annehmen», bat der Mann, aber Ryan sagte eigentlich nichts, denn er weinte lautlos. Er und sein Vater saßen, an ihre Stühle gefesselt, am Küchentisch, und Ryans Vater zitterte am ganzen Leib. Sein langes dunkles Haar fiel wie ein Vorhang um sein Gesicht. Aber als er aufsah, hatte er einen beunruhigend störrischen Ausdruck in den Augen.
Der Mann seufzte. Sorgfältig schob er den Ärmel von Ryans Sweatshirt über seinen Ellbogen hoch und legte den Finger auf den kleinen runden Knochenwulst an der Kleinfingerseite von Ryans Handgelenk. «Griffelfortsatz der Elle», erinnerte sich Ryan. Das wusste er von irgendeinem Bio-Kurs, den er einmal belegt hatte. Es war ihm ein Rätsel, warum ihm die Bezeichnung so mühelos einfiel.
Oberhalb des Handgelenks … sagte der Mann zu Ryans Vater … Oder unterhalb des Handgelenks?
Ryan versuchte, einen losgelösten Zustand zu erreichen – einen Zen -Zustand, dachte er –, aber die Wahrheit war, je mehr er sich bemühte, sein Bewusstsein von seinem Körper zu trennen, desto mehr war er sich seiner Körperlichkeit bewusst. Er spürte, wie er am ganzem Leib zitterte. Er spürte das Salzwasser, das ihm aus Nase und Augen rann und auf seinem Gesicht
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