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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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ersten Dinge, die er zu ihr gesagt hatte.
    Sie saßen nach Unterrichtsende in seinem Sprechzimmer, wohin sie vorgeblich gekommen war, um über den Test in der folgenden Woche zu reden, aber das geriet recht schnell in Vergessenheit. «Ich glaube ehrlich nicht, dass du etwas zu befürchten hast», hatte er zu ihr gesagt, und dann wartete er. Dieses Lächeln, diese grünen Augen.
    «Du bist anders als die anderen hier», sagte er.
    Was, wie sie meinte, stimmte. Aber woher wusste er das? Niemand sonst in der Schule war dieser Meinung. Obwohl sie beim College-Eignungstest die besten Ergebnisse von allen erzielt hatte, obwohl sie in fast allen Fächern Einsen hatte, schien sie niemand, weder Lehrer noch Schüler, «bemerkenswert» zu finden. Die meisten Lehrer hatten Ressentiments gegen sie, sie schätzten ehrgeizige Schüler eigentlich nicht, Schüler, die Pompey hinter sich lassen wollten. Ihre Mitschüler hingegen betrachteten sie schlicht als einen Freak – möglicherweise eine Irre. Es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Angewohnheit hatte, irgendwelche sarkastischen Bemerkungen vor sich hin zu murmeln, bis ihr jemand gesagt hatte, dass eine ganze Reihe Leute auf der Schule glaubte, sie habe das Tourettesyndrom. Wo und wann ein solches Gerücht entstanden war, hatte sie keine Ahnung, aber vermutlich war die Urheberin ihre Englisch-Leistungskurs-Lehrerin gewesen, Mrs.   Lovejoy, deren Interpretationen literarischer Texte so hohl waren, dass Lucy kaum – beziehungsweise offenbar überhaupt nicht – imstande war, ihre Verachtung für sich zu behalten.
    George Orson dagegen hörte sich aufrichtig gern an, was sie zu sagen hatte. Er bestätigte sie in ihrer ironischen Bewertung der großen Gestalten der amerikanischen Geschichte, ja schmunzelte regelrecht über einige ihrer Bemerkungen, während der Rest der Klasse sie mit streng-gelangweilten Blicken maß. «Es ist offensichtlich, dass du einen brillanten Verstand hast», schrieb er unter einen ihrer Aufsätze, und als sie nach der Stunde zu ihm kam, um über die bevorstehende Prüfung zu sprechen, sagte er ihr, er wisse, was es bedeute, anders zu sein – missverstanden zu werden –
    «Du weißt, wovon ich rede, Lucy», sagte er. «Ich weiß, dass du es spürst.»
    Vielleicht spürte sie es wirklich. Sie saß da und gestattete es ihm, seine eindringlichen grünen Augen auf sie zu richten – es war ein intimer, seltsam forschender Blick, zugleich ironisch und ernst, und sie schnappte ganz leicht nach Luft. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie nicht als hübsch galt – jedenfalls nicht in der konventionellen Welt der Pompey High School. Ihr Haar war dicht und wellig, und sie hatte das Geld nicht, es sich so schneiden zu lassen, dass es leichter zu bändigen gewesen wäre. Ihr Mund war zu klein und ihr Gesicht zu lang. Obwohl, in einem anderen Kontext, stellte sie sich hoffnungsvoll vor, in einer anderen Epoche, hätte sie vielleicht schön sein können. Ein Mädchen in einem Bild von Modigliani.
    Trotzdem, sie war es nicht gewohnt, dass man ihr in die Augen sah. Sie zupfte an dem Seidenschal, den sie trug, ein Accessoire, das sie in einem Secondhandladen gefunden hatte und das, wie sie meinte, etwas leicht Modiglianeskes haben konnte, und George Orson betrachtete sie nachdenklich.
    «Weißt du, was ‹sui generis› bedeutet?», sagte er.
    Ihre Lippen öffneten sich – als sei das ein Test, eine Prüfung ihres Wortschatzes, ein Buchstabierwettbewerb. An der Wand hingen verschiedene inspirative Sozialkunde-Poster. ELEANOR ROOSEVELT, 1884   –   1962: «NIEMAND KANN DIR DAS GEFÜHL GEBEN, MINDERWERTIG ZU SEIN, OHNE DASS DU ES IHM GESTATTEST.» Sie schüttelte den Kopf, leicht unangenehm berührt.
    «Nein», sagte sie. «Nicht so richtig.»
    «Das ist es, was du bist», sagte George Orson. «Sui generis. Es bedeutet ‹von eigener Art›, ‹einzigartig›. Aber nicht in diesem billigen Wischiwaschi-Selbsthilfe-Sinn von wegen jeder ist ein Individuum, der nur dazu dient, das Selbstwertgefühl des Mittelmäßigen zu steigern.
    Nein, nein», sagte er. «Es bedeutet, dass du dich selbst erfindest, dass du über alle Kategorien erhaben bist – über standardisierte Testergebnisse, über belanglose soziologische Kriterien wie: wo du herkommst und was dein Daddy macht und auf welches College du später gehst. Du stehst darüber. Das habe ich gleich im ersten Augenblick erkannt. Du erfindest dich selbst », sagte er. «Weißt du, was ich meine?»
    Sie sahen

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