Identität (German Edition)
irgendeine Rolle gespielt hätte, denn schließlich hatte Patricia keine Ahnung, wo sie jetzt war.
Das versetzte ihr schon einen Stich.
Plötzlich sah sie Patricia und ihre Hausratten vor sich – die Ratten in ihren Käfigen, die draußen unter dem Dachvorsprung standen, und ihre Schwester, die spätabends von ihrer Arbeit im Circle K heimkam und sich in diesem rot-blauen Kittel mit dem falsch geschriebenen Namensschildchen – PATARCIA – hinkniete und mit dieser gurrenden Stimme auf die Ratten einredete, von denen eine, Mr. Niffler, einen riesigen Tumor, der ihr aus dem Bauch herauskam, hinter sich herschleifte. Ihre Schwester war mit ihr zum Tierarzt gegangen und hatte dafür bezahlt, dass er ihr wegoperiert wurde, und dann war er nachgewachsen , der Tumor, und noch immer ließ Patricia nicht locker. Überschüttete die sterbende Kreatur mit Liebe, kaufte ihr Plastikspielzeug, redete in Babysprache auf sie ein, ließ sich einen neuen Termin beim Tierarzt geben.
Lucy war froh, dass sie George Orson nie von Mr. Niffler erzählt hatte, und ebenso froh, dass er nie das Haus gesehen hatte, in dem sie aufgewachsen war und in dem sie und Patricia weiterhin gewohnt hatten. Ihr Vater nannte es liebevoll den «Schuppen». «Wir sehen uns dann wieder hier im Schuppen», sagte er immer, wenn er morgens zur Arbeit ging.
Erst später fiel ihr auf, dass es im Prinzip wirklich ein Schuppen war. Baufällig, zusammengeschustert, ein Wohnzimmer und eine Küche, die formlos ineinander übergingen, das Badezimmer so winzig, dass man mit den Knien an die Wanne stieß, wenn man auf dem Klo saß. Eine Garage, die vollgestopft war mit Autoteilen und Tüten voller Bierdosen, die ihr Vater nie zum Recycling-Center brachte, das Loch in der Rigipswand des Wohnzimmers, durch das man die nackten Balken sah, der Teppich, der wie das abgewetzte Fell eines Teddybären aussah. Eine Treppe führte hinauf zum Dachboden, wo die Mädchen, Lucy und Patricia, schliefen. Die Decke des Schlafzimmers war das Dach, und wenn sie da lagen, hatten sie die steilen Balken direkt über dem Kopf . Hätte George Orson das gesehen, dachte sie, er hätte sich ihretwegen geniert; und sie hätte sich schmutzig gefühlt.
Dass sie indes besonders froh gewesen wäre, hier zu sein, konnte sie allerdings auch nicht gerade behaupten.
Mitten in der Nacht war sie plötzlich hellwach. Sie lagen im ehemaligen Bett von George Orsons Eltern, einem Doppel-Ungetüm, und sie spürte förmlich die übrigen Zimmer des Hauses – die anderen leeren Schlafzimmer, die lückenlosen Reihen von Bücherregalen in der «Bibliothek», die toten Bäume des hoch umzäunten Gartens hinter dem Haus. «Ein japanischer Garten», hatte George Orson dazu gesagt. Sie konnte sich die kleine hölzerne Brücke vorstellen, das Beet von verkümmerten, nicht blühenden Schwertlilien, die im Unkraut erstickten. Eine Miniatur-Trauerkirsche in den letzten Zügen. Eine Kotoji-Laterne aus Granit. Seine Mutter habe eine «künstlerische Ader» gehabt, hatte George Orson Lucy erklärt.
Womit er vermutlich einen leichten Dachschaden gemeint hatte. Nahm Lucy jedenfalls an. Das ganze Anwesen – das Motel und das Haus – wirkte so, als sei es von jemandem konzipiert worden, der an Multipler Persönlichkeitsstörung litt. Ein Leuchtturm. Ein japanischer Garten. Das Wohnzimmer mit seinen schauerlich alten, mit Laken verhängten Polstermöbeln und das Zimmer mit dem Fernseher und dem Panoramafenster, das auf den Garten ging. Die Küche mit ihren Siebziger-Jahre-Farben, dem avocadogrünen Herd und Kühlschrank, den senffarbenen Fliesen, den Schubladen und Schränken voller Geschirr und Geräten, einem alten Fleischerblock und einer fast obszön umfangreichen Kollektion von Messern – George Orsons Mutter war von den Dingern offenbar besessen gewesen, denn es gab sie in fast jeder Form und Länge, die sich ein Mensch nur vorstellen konnte: von allerkleinsten Filetiermessern bis hin zu gigantischen Hackbeilen. Sehr beunruhigend, dachte Lucy. In einer Anrichte fand sie drei Kartons Porzellangeschirr und ein paar besorgniserregende Einmachgläser, noch gefüllt mit irgendeiner dunklen Schmiere.
Im ersten Stock waren das Bad und drei Schlafzimmer, darunter das eine, in dem sie gerade lag, genau das Zimmer, genau das Bett, in dem seine Eltern geschlafen hatten und in dem seine alternde Mutter, wie Lucy sich vorstellte, nach dem Tod ihres Mannes allein weiter geschlafen hatte. Selbst jetzt noch, viele Jahre
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