Idoru
machst du?«
Die beleuchtete Oberfläche des Zederntelefons. »Ich ruf im Lucky Dragon auf dem Sunset an.«
»Wo?«
»So ein Laden. Durchgehend geöffnet.«
»Laney, es ist drei Uhr früh …«
»Muß mich bei Rydell bedanken, ihm sagen, daß es mit dem Job geklappt hat …«
Sie stöhnte und rollte sich herum, zog sich das Kissen über den Kopf.
Durchs Fenster konnte er den durchsichtigen Bernstein sehen, die dicht beieinanderstehenden Kliffs der Neubauten, in denen sich die Lichter der Stadt spiegelten.
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46 Märchen vom
Wiederaufbau
Chia träumte von einem Strand, der von zerkleinerten Elektronikteilen übersät war; krebsartige Gebilde, deren Beine gestreift waren wie antike Widerstände, hasteten flach am Boden dahin. Die Bucht von Tokio, in den Nebel aus einem alten Film gehüllt, ein fahlgraues Tuch, das für kurze Zeit herannahende Schrecknisse verbergen sollte: Meeresungeheuer oder eine fremde Armada.
Hak Nam erhob sich vor ihr, als sie darauf zuwatete, rückte jedoch, einer Traumlogik folgend, nicht näher. Der Sog des zurückströmenden Wassers an ihren Knöcheln. Die Ummauerte Stadt wächst. Wird gezüchtet. Aus dem Material des Strandes, aus den Trümmern und dem Strandgut der Welt vor der Veränderung. Unermeßliche Tonnen, die im Lauf des großen Wiederaufbaus von Schuten und Kranwagen hier abgeladen worden sind. Die winzigen Rodel-van-Erp-Tierchen wimmeln darin herum, heben die mit Eisen vergitterten Balkone, die Schlafzimmer sind, in die Höhe. Unzählige planlos eingesetzte Fenster werfen leere silberne Rechtecke in den Nebel. Ein Gebilde willkürlichen, menschlich geprägten Wachstums, monströs und grandios, das hier rekonstruiert, zurückübersetzt wird aus seiner letzten Inkarnation als Reich konsensueller Phantasie.
Das Infrarotstottern des Weckers. Sonnenhelles Halogen beleuchtet das bedruckte Tuch mit dem Rechteck in der Mitte, das eine Leere darstellt, eine unbekannte Adresse: die legendäre Killerdatei. Chia erweckt die Espressomatic mit ihrer Fernbedienung zum Leben, rollt sich in der Dunkelheit der Steppdecke noch mal zusammen und wartet auf das lauter -327—
werdende Zischen des Schaums. Frühmorgens begibt sie sich jetzt meistens in die Stadt und hört sich den Klatsch in einem beliebten Frisiersalon in der Sai Shing Road an. Der Etrusker ist manchmal da, zusammen mit Klaus und dem Hahn und den anderen Geistern, mit denen er rumhängt, und sie dulden sie.
Sie ist stolz darauf, weil sie in Masahikos Anwesenheit keinen Piep sagen. Sind sie alt, steinalt, oder tun sie nur so? Wie auch immer, sie wissen meistens zuerst über irgendwelche Dinge Bescheid, und das hat sie zu schätzen gelernt. Und der Etrusker hat angedeutet, daß etwas frei sei, etwas sehr Kleines, aber mit einem Fenster. Mit Blick auf eine Straße, die früher die Lung Chun Road gewesen wäre.
Er mag sie, der Etrusker. Das ist merkwürdig. Angeblich mag er niemanden so recht, aber er hat das mit dem Kredit ihres Vaters geregelt, obwohl sie vergessen hatte, den Schlüssel abzugeben. (Sie bewahrt den Schlüssel zur Suite 17 in einem Schminktäschchen aus moirierter Seide auf, das sie auf dem JAL-Rückflug bekommen hat: Er ist aus weißem Kunststoff und ähnelt von der Form her einem altmodischen mechanischen Schlüssel mit einem Magnetstreifen am langen Teil, während das flache Stück wie die Krone einer Prinzessin aussieht. Manchmal holt sie ihn heraus und schaut ihn sich an, aber er sieht nur wie ein billiges weißes Stück Plastik aus.) Der Etrusker und die anderen bespitzeln ständig das Projekt.
So nennen sie es. Von ihnen weiß Chia, daß die Insel der Idoru noch nicht fertig ist. Sie ist da, aber sie ist nicht stabil; das müssen sie noch hinkriegen, bevor sie mit dem Bauen anfangen, selbst mit Nanotechnik, falls es ein weiteres Erdbeben gibt. Sie fragt sich, was die Russen mit ihrer anfangen werden, und manchmal fragt sie sich, was aus Maryalice, Eddie und Calvin geworden ist, dem Typ im Whiskey Clone, der ihr geholfen hat, von dort zu fliehen – nur weil er fand, daß er es tun sollte. Aber es kommt ihr vor, als wäre das lange her, ein Ereignis aus der Zeit zwischen der -328—
Ummauerten Stadt und der Schule.
Vermutlich weiß ihre Mutter inzwischen, daß sie nicht bei Hester gewesen ist, aber sie hat nie ein Wort darüber verloren, hat nur zweimal mit ihr über Verhütungsmittel und sicheren Sex geredet. Und eigentlich war sie ja auch nicht viel länger als achtundvierzig Stunden drüben,
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