Idoru
das schwarze Loch, die rechteckige Leerstelle auf dem bedruckten Tuch in seinem Zimmer im Restaurant, die er ihr gezeigt hatte.
»Ich muß dich jetzt alleinlassen«, sagte er, als sie aus dem Irrgarten in diese Leere hineinschossen. »Sie möchten ungestört sein.«
Er war fort, und zuerst dachte Chia, dort wäre überhaupt nichts, nur ein ganz schwaches gräuliches Licht, das von irgendwo hoch oben herabfiel. Als sie nach oben schaute, löste es sich in ein riesiges, fernes Oberlicht sehr hoch über ihr auf, das mit einem Kompost fremdartiger, ausrangierter Gebilde bestreut war. Sie erinnerte sich an die Dächer der Stadt und die abgelegten Dinge dort oben.
»Es ist seltsam, nicht wahr?« Die Idoru stand in bestickten Gewändern vor ihr, deren winzige, helle Muster von innen erleuchtet wurden und sich bewegten. »Hohl und düster. Aber er hat darauf bestanden, daß wir uns hier mit dir treffen.«
»Wer hat darauf bestanden? Weißt du, wo Zona ist?«
Und vor der Idoru stand ein kleiner Tisch oder ein vierbeiniger Ständer. Er war sehr alt, und seine geschnitzten Drachenbeine waren dick mit abblätternder, blaßgrüner Farbe bedeckt. Mitten darauf stand ein einzelnes staubiges Glas mit -323—
etwas Zusammengerolltem darin. Jemand hustete.
»Dies ist das Herz von Hak Nam«, sagte der Etrusker mit der gleichen knarrenden Stimme, die aus unzähligen Samples von trockenen, alten Geräuschen zusammengesetzt war.
»Traditionell ein Ort für ernsthafte Gespräche.«
»Deine Freundin ist fort«, sagte die Idoru. »Ich wollte es dir selbst sagen. Der da«, sie zeigte auf das Glas, »erzählt dir gern Einzelheiten, von denen ich nichts verstehe.«
»Aber sie haben doch nur ihren Website geschlossen«, sagte Chia. »Sie ist in Mexico City, bei ihrer Gang.«
»Sie ist nirgends«, sagte der Etrusker.
»Als euer Kontakt unterbrochen wurde«, sagte die Idoru, »indem man dich aus diesem Zimmer in Venedig entführte, ist deine Freundin in deine System-Software gegangen und hat die Videogeräte in deiner Brille aktiviert. Was sie dort gesehen hat, war für sie ein Indiz, daß du in großer Gefahr warst. Und ich glaube, das warst du auch. Dann muß sie einen Plan gefaßt haben. Bei der Rückkehr in ihr geheimes Land hat sie ihren Site mit dem der Ortsgruppe Tokio des Lo/Rez-Vereins gekoppelt. Sie hat Ogawa, der Präsidentin der Gruppe, befohlen, eine Nachricht zu posten, die Rez’ Tod im Hotel Di bekanntgab. Sie hat sie mit einer Waffe bedroht, die den Site der Ortsgruppe Tokio zerstören würde …«
»Das Messer«, sagte Chia. »Das war real?«
»Und extrem illegal«, sagte der Etrusker.
»Als Ogawa sich geweigert hat«, sagte die Idoru, »hat deine Freundin ihre Waffe benutzt.«
»Ein schweres Verbrechen«, sagte der Etrusker, »nach den Gesetzen aller beteiligten Länder.«
»Dann hat sie ihre Nachricht durch die Überreste von Ogawas Website gepostet«, sagte die Idoru. »Sie wirkte offiziell, und sie hatte den Effekt, daß das Hotel Di binnen -324—
kurzem von einem Meer potentieller Zeugen umzingelt war.«
»Was immer die nächste Stufe ihres Plans gewesen sein mag«, sagte der Etrusker, »sie hatte ihre Anwesenheit in ihrem Website offenbart. Die ursprünglichen Besitzer haben sie bemerkt. Sie hat ihren Site verlassen. Sie haben sie verfolgt.
Sie war gezwungen, ihre Persona auszurangieren.«
»Was für eine Persona?« Chia verspürte ein flaues Gefühl im Magen.
»Zona Rosa«, sagte der Etrusker, »war die Persona von Mercedes Purissima Vargas-Gutierrez. Sie ist sechsundzwanzig Jahre alt und das Opfer eines Umweltsyndroms, das im Bundesdistrikt von Mexiko sehr häufig auftritt.« Seine Stimme war jetzt wie Regen auf einem dünnen Metalldach. »Ihr Vater ist ein äußerst erfolgreicher Strafverteidiger.«
»Dann kann ich sie finden«, sagte Chia.
»Aber das würde sie nicht wollen«, sagte die Idoru.
»Mercedes Purissima ist infolge des Syndroms schwerstens mißgestaltet und hat ihr physisches Ich während der letzten fünf Jahre nahezu vollständig verleugnet.«
Chia saß da und weinte. Masahiko nahm die schwarzen Schalen von den Augen und kam zum Bett herüber.
»Zona ist weg«, schluchzte sie.
»Ich weiß«, sagte er. Er setzte sich neben sie. »Du hast mir die Geschichte der Sandbenders noch nicht zu Ende erzählt«, sagte er. »Es war sehr interessante Geschichte.«
Also fing sie an, sie ihm zu erzählen.
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45 Glück
» L
aney«, hörte er sie mit schlaftrunkener Stimme sagen, »was
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