Illusion der Weisheit
Wenn sie dir nicht antwortet, heißt das doch, dass sie das nicht will, also …«
»Und wenn ihr etwas zugestoßen ist?« Es rutschte mir einfach so heraus. Da hatte ich eine solche Vorsicht an den Tag gelegt, und beim ersten Einwand feuerte ich den wahren Grund meiner Sorge heraus. Doch er ging unbeirrt darauf ein.
»Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, würde ich sagen, dass das nicht deine Sache ist. Wenn ihr etwas zugestoßen wäre, müsste sich ihre Familie darum kümmern, ihre Eltern, ihr Ehemann. Und wieso sollte ihr überhaupt etwas zugestoßen sein?«
Weil ein mordender Arzt sein Unwesen treibt, verstehst du das nicht?
Ich musste mich beherrschen, um den Satz nicht auszusprechen. Ich atmete tief durch, als müsste ich erst einmal begreifen, was eigentlich los ist. Ich nickte. Schwieg noch ein paar Sekunden.
»Vielleicht hast du recht«, räumte ich ein. »Aber wenn ich versuchen wollte sie zu finden, was würdest du mir raten?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Wenn sie weiterhin nicht antwortet, fahr hin … Du hast gesagt, sie hätte dir auch ihre Adresse gegeben, richtig? Dann klopf bei ihr an.«
»Wenn du diese Frau finden müsstest und du würdest sie zu Hause nicht antreffen, was würdest du tun?«
»Wenn ich eine berechtigte Veranlassung hätte, würde ich eine meldeamtliche Überprüfung durchführen. Ich würde mir eine richterliche Erlaubnis besorgen und mir ihre Handylisten verschaffen, um zu sehen, mit wem sie Kontakt hatte und ob das Handy noch aktiv ist.«
»Und diese Listen lassen sich nur mit einer richterlichen Erlaubnis einsehen? Gibt es da keine andere Möglichkeit?«
»Zumindest keine legale, es sei denn, das Ding ist auf dich zugelassen.« Wieder griff er nach dem Zigarettenpäckchen, doch dann überlegte er es sich anders. »Vorausgesetzt, diese Unterhaltung hätte nie stattgefunden, wenn ich an deiner Stelle wäre und diese Listen wirklich dringend einsehen müsste, würde ich zu einem Privatermittler gehen. Durch krumme Dinger, für die du im Zweifelsfall mitverantwortlich wärst, kommen die an alles ran.«
Wir waren so gut wie fertig, doch meine letzte Frage bekam ich einfach nicht heraus. Wir hatten uns bereits die Hand geschüttelt, ich hatte mich für seine Zeit bedankt, und wir standen an der Tür. Ich versuchte beiläufig zu klingen.
»Ach, entschuldige. Noch eine Sache. Reine Neugier. Ich interessier mich eigentlich nicht sonderlich für Verbrechensmeldungen, aber … Weißt du, ob es in letzter Zeit irgendwo im Süden irgendwelche Nuttenmorde gab? Ich meine, Morde, bei denen die Polizei an einen Serientäter denkt?«
Jetzt sah er ehrlich verblüfft aus. Vielleicht dachte er, ich tickte nicht mehr sauber, und womöglich hatte er recht. Er antwortete in leicht verändertem, bedachtem Ton, als wäre ich ein geistig Verwirrter, mit dem er keine Scherereien haben wollte.
»Da kann ich dir nicht helfen. Ich bin Finanzpolizist, mit solchen Verbrechen haben wir nichts zu tun. Da bin ich genauso wenig im Bilde wie du.«
Er griff nach der Klinke und öffnete die Tür, um sicherzugehen, dass diese Unterhaltung sich nicht noch länger hinzog. Es habe ihn gefreut, mich wiederzusehen, irgendwann sollten wir uns mal wieder treffen, vielleicht mit ein paar Leuten aus der Klasse. Klar, das sollten wir, vielen Dank für alles und bis bald.
Aber klar, bis ganz bald.
Ich bin komplett durchgeknallt. Diesen Satz sagte ich mir immer wieder, nachdem ich den einigermaßen überraschten Programmleiter wegen nicht näher genannter familiärer Gründe um eine Woche Urlaub gebeten und sie bekommen hatte.
Ich bin komplett durchgeknallt, sagte ich mir wieder, während ich im Reisebüro anrief, um ein Ticket (ja, heute noch, danke, der letzte Flug ist auch okay, nur Hinflug, ich weiß noch nicht, wann ich zurückfliege) nach Bari zu kaufen; während ich ein Hotelzimmer buchte; während ich meine Tasche packte; während ich ein Taxi zum Flughafen nahm. Erst im Flugzeug beruhigte ich mich. Es war fast Mitternacht, als ich im Hotel ankam. Ich ging eine Pizza essen und stellte erstaunt fest, dass die Straßen voller Menschen waren, obwohl es Mittwoch war. Ich kehrte ins Hotel zurück und fiel in einen für meine Verhältnisse ungewöhnlich tiefen Schlaf, denn normalerweise kann ich in Hotels nie schlafen, ohne mich mit Schlafmitteln vollzustopfen.
Ehe ich mich am nächsten Morgen in Bewegung setzte, unternahm ich einen letzten Versuch mit dem Handy. Vielleicht ging sie ja ran und erklärte mir
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