Vorhang
1
W er kennt nicht das jähe Erschrecken bei dem Gefühl, eine Situation schon einmal erlebt zu haben?
Das habe ich schon mal getan…
Warum berührt einen das immer wieder so?
Darüber grübelte ich nach, während ich im Zug saß und draußen die flache Landschaft von Essex vorbeigleiten sah.
Wie lange war es her, dass ich die gleiche Reise unternommen hatte? Mit dem – lächerlichen – Gefühl, dass der beste Teil meines Lebens vorbei sei! Weil ich in jenem Krieg verwundet worden war, der für mich immer der Krieg bleiben würde, obwohl ein zweiter, noch schrecklicherer Krieg inzwischen die Erinnerung an ihn fast ausgelöscht hat.
1916 hatte der junge Arthur Hastings geglaubt, alt und gereift zu sein. Wie wenig hatte ich geahnt, dass das Leben für mich in Wirklichkeit erst begann!
Meine Reise hatte mich, was ich nicht wissen konnte, zu dem Mann geführt, dessen Einfluss mein Leben formen und bestimmen sollte. Eigentlich hatte ich meinen alten Freund John Cavendish besuchen wollen, dessen Mutter ein Landgut namens S tyles besaß und vor Kurzem wieder geheiratet hatte. Ich hatte mir eine angenehme Auffrischung alter Bekanntschaften erhofft und nicht gedacht, dass ich bald in die dunklen Verwicklungen eines geheimnisvollen Mordes hineingezogen werden sollte.
Im Dorf Styles war es, wo ich den seltsamen kleinen Mann Hercule Poirot wiedertraf, dem ich zum ersten Mal in Belgien begegnet war.
Wie gut erinnere ich mich noch an mein Erstaunen, als ich die hinkende Gestalt mit dem großen Schnurrbart die Dorfstraße heraufkommen sah!
Hercule Poirot! Seit jener Zeit war er mein bester Freund, sein Einfluss hatte mein Leben geformt. In seiner Begleitung, bei der Jagd auf einen weiteren Mörder, hatte ich meine Frau kennengelernt, die treueste und liebste Gefährtin, die man sich vorstellen kann.
Sie ruhte jetzt in argentinischem Boden, nachdem sie gestorben war, ohne lange zu leiden und ohne die Gebrechen des Alters kennengelernt zu haben – ganz wie sie es sich gewünscht hatte. Doch sie hatte einen sehr einsamen und unglücklichen Mann zurückgelassen.
Ach, wenn ich doch nur das Rad der Zeit zurückdrehen und mein Leben noch einmal leben könnte! Wenn dies jener Tag des Jahres 1916 wäre, der Tag meiner Reise nach Styles… Wie viel hatte sich seit damals verändert! Welche Lücken in den Reihen der Bekannten! Styles selbst war von der Familie Cavendish verkauft worden. John Cavendish war tot; seine Frau Mary – dieses faszinierende, rätselhafte Geschöpf – lebte noch, und zwar in Devonshire. Lawrence war mit Frau und Kindern nach Südafrika gezogen. Veränderungen, wohin man sah.
Eins war jedoch gleich geblieben: Ich fuhr nach Styles, wo ich Hercule Poirot treffen würde.
Wie erstaunt war ich gewesen, als ich seinen Brief mit dem Aufdruck »Gut Styles, Styles, Essex« erhielt.
Ich hatte meinen alten Freund fast ein Jahr lang nicht mehr gesehen. Unsere letzte Begegnung hatte mich erschreckt und traurig gestimmt. Er war ein alter Mann geworden, den die Arthritis fast zum Krüppel gemacht hatte. Von einem Aufenthalt in Ägypten hatte er sich Besserung versprochen, doch war, wie er in seinem Brief mitteilte, sein Zustand dort eher noch schlechter geworden. Dennoch schrieb er gut gelaunt…
Und berührt es Sie nicht, mein Freund, wenn Sie den Absendeort dieses Briefes lesen? Er weckt alte Erinnerungen, nicht wahr? Ja, ich bin hier auf Gut Styles. Stellen Sie sich vor, man hat jetzt ein sogenanntes Gästehaus daraus gemacht. Es wird von einem Ihrer ach so britischen altgedienten Colonels geführt – einem mit ganz altem Schulschlips und Kolonialdienst in Indien. Es ist seine Frau, bien entendu, die dafür sorgt, dass sich das Unternehmen rentiert. Sie ist recht tüchtig, aber sie hat Haare auf den Zähnen, und der arme Colonel leidet sehr darunter. Ich, an seiner Stelle, würde ihr mit dem Kriegsbeil kommen!
Ich sah ihre Anzeige in der Zeitung und bekam Lust, wieder den Ort aufzusuchen, der meine erste Heimat in diesem Land war. In meinem Alter hat man Freude daran, die Vergangenheit noch einmal zu erleben.
Dann, stellen Sie sich vor, treffe ich hier einen Baronet, der ein Freund des Chefs Ihrer Tochter ist. (Klingt dieser Satz nicht so, als sei er einer französischen Sprachübung entnommen?)
Sogleich fasse ich einen Plan. Er möchte, dass die Franklins den Sommer hier verbringen, und ich meinerseits werde Sie zu einem Besuch überreden; dann sind wir alle zusammen, sozusagen en famille. Das
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