Serenade für Nadja
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Es gibt Menschen, die sich in einem Flugzeug ganz dem Wein und dem Essen widmen und darüber vergessen können, dass sie in einer Metallkiste achttausend Meter über dem Meeresspiegel eingesperrt sind. So ein Mensch bin ich.
Bequem sitze ich in der Maschine von Frankfurt nach Boston, nippe an weißem Portwein und lausche dem sanften Brummen der Triebwerke.
Nachdem vor einer Weile der Essensservice beendet worden war, wurde das Flugzeug verdunkelt. Viele sehen sich auf dem kleinen Bildschirm vor sich einen Film an. Manche merken wegen der Ohrstöpsel gar nicht, wie laut sie lachen. Der weißhaarige Mann vor mir leidet anscheinend am Restless-Legs-Syndrom, unaufhörlich wippt er mit den Füßen.
Wer zum Frühstück nicht geweckt werden möchte, kann dies durch einen Aufkleber an der Lehne kundtun. Mir aber ist eh nicht nach Schlafen.
Ich habe nun diese Zeilen in meinen Laptop getippt und werde bis Boston weiterschreiben. Bis zur Landung soll meine Geschichte fertig sein.
Aus irgendeinem Grund erscheint mir das unerlässlich. Die Geschichte muss zu Ende erzählt werden, und die ganze Angelegenheit abgeschlossen. Alte Rechnungen, altes Leid, die Spuren menschlicher Grausamkeit, all das soll eine Ruhestätte finden.
Bei Carl Sagan steht irgendwo, der Mensch trage noch die Aggressivität unserer kriechenden Vorfahren in sich. Von ihnen sei uns der Hirnstamm überkommen, ein Organ, das im Verlauf von Hunderten von Millionen Jahren zur Heimstatt unserer allmählich sich herausbildenden Aggressionsmechanismen, unserer Rituale, unserer territorialen und sozialen Hierarchien geworden sei.
In uns allen steckt, hinter höflichem Gehabe verborgen, ein Krokodil, und sobald wir uns in Gefahr wähnen, zeigt es die Zähne.
Ich muss alles erzählen. Erst wenn alles gestanden ist, kann der Schmerz überwunden werden und das Leben unbeschwert weitergleiten.
Heute Morgen bin ich von Istanbul nach Frankfurt geflogen. Dort habe ich erst einen Milchkaffee getrunken und mich dann durch das Labyrinth dieser ausufernden Flughafenstadt gekämpft, bis ich vor der Passkontrolle stand. Ich reihte mich in die Schlange für Nichteuropäer ein und hielt schließlich einem eisig blickenden Zollbeamten meinen türkischen Pass hin. Sorgfältig tippte der Mann alle Angaben in seinen Computer ein.
Vorname: Maya
Familienname: Duran
Geschlecht: weiblich
Geburtsdatum: 21. Januar 1965
Dass ich sechsunddreißig Jahre alt bin, weiß der Beamte also. Und obwohl mein Pass keine Angabe zur Religion enthält, vermutet er bestimmt, dass ich Muslimin bin, wie sollte es auch anders sein, bei einer Türkin! Dabei stecken in mir noch drei andere Frauen. Ich bin nicht nur Maya, sondern auch Ayşe, Nadja und Mari.
Ich werde nach Amerika mit diesen vier Identitäten einreisen. Am Bostoner Logan-Flughafen werde ich in ein Taxi steigen und mich ins Massachusetts General Hospital bringen lassen.
Nach meiner Religion wird mich niemand fragen, doch sollte es einer tun, so habe ich meine Antwort bereits vorbereitet: Ich bin Muslimin, Jüdin und Katholikin; kurz: ein Mensch.
Die Stewardessen in dem Flugzeug sind alle groß, blond und hübsch. Und wie bei allen Deutschen sitzen ihnen die Uniformen wie angegossen. Einzig und allein die Deutschen schaffen es, ihre Kleider so knitterfrei zu tragen, als ob sie frisch aus der Reinigung kämen. Ob das nun an ihren Körpern liegt oder vielleicht daran,dass sie immer so kerzengerade dastehen, jedenfalls sehen sie nach einem Arbeitstag nie so zerknautscht aus wie ich, und dabei achte ich sehr auf meine Kleidung.
Ich habe für so etwas ein Auge, denn seit Jahren bin ich an der Universität Istanbul für die Betreuung ausländischer Gäste zuständig.
Eine der Stewardessen nimmt mir das leere Glas ab und fragt mich auf Englisch, ob ich noch einen Portwein möchte.
»Thank you«, antworte ich und bestelle noch einen. Seit Filiz mir von einem Medizinerkongress in Portugal weißen Portwein mitgebracht hat, habe ich meine Vorliebe dafür entdeckt, auch wenn ich selten an diese Köstlichkeit herankomme.
An und für sich trinke ich nicht viel. Wein habe ich zum ersten Mal mit Ahmet probiert. Geschmeckt hat er mir nicht, aber ich war viel zu verliebt in Ahmet, um das zuzugeben. Allmählich habe ich mich doch daran gewöhnt. Ach, jene Zeit damals! Da war das Ungeheuer, das in Ahmet schlummerte, noch nicht erwacht, und er war noch der erträumte Mann, der über weibliches Feingefühl verfügte und gleichzeitig sehr männlich
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