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Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
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ein wenig.
    Liebe Natalia,
    vor einigen Tagen hatte ich Ihnen eine Mail geschickt. Wir hatten Probleme mit dem Server, und manche Nachrichten haben ihre Empfänger offenbar nicht erreicht. Womöglich war das auch bei Ihnen der Fall, deshalb hänge ich meine letzte Mail noch einmal an. Ich freue mich von Ihnen zu hören.
    Sehr herzlich,
    Marco
    P.S. Vielleicht könnten wir auf das »Sie« verzichten, was meinen Sie?
    Wer weiß, ob es heutzutage noch Leute gibt, die die Story »ich fürchte, meine letzte Nachricht ist nicht angekommen, es gab Probleme mit dem Server/dem Computer/dem Handy, deshalb schicke ich sie noch mal« schlucken.
    Im Klartext heißt das: Du hast mir nicht geantwortet; ich traue mich nicht, dich rundheraus zu fragen, wieso nicht, und kann es kaum abwarten, dass du mir endlich schreibst. Ich gebe dir eine zweite Chance, und keiner von uns muss sich eine Blöße geben. Hoffe ich.
    Doch ich sagte mir: Sicher konnte sie nicht sofort antworten, weil ihr etwas dazwischengekommen ist. Jetzt ist ihr dieser kleine Fauxpas unangenehm, und sie weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Mit meiner Mail helfe ich ihr einfach nur aus der Klemme.
    Am nächsten Tag antwortete sie nicht, und auch nicht am Tag darauf. Während ich in sinnloser, unkontrollierter Panik versank, musste ich daran denken, wie in meiner Kindheit eine Tante von mir – es wurde zu Hause nur hinter vorgehaltener Hand erzählt, doch ich kriegte alles mit – verrückt geworden war. Vielleicht war das ja eine Familienkrankheit, und ich hatte nur auf die richtige Gelegenheit gewartet, um endlich auch verrückt zu werden.
    Nach drei Tagen wachsender Unruhe, während der – so schien mir – meine Kollegen mich immer schiefer ansahen, überwand ich meine krankhafte Telefonscheu und versuchte sie anzurufen. Selbstverständlich war das Handy abgeschaltet, und das blieb es auch, trotz meiner zahllosen und im Laufe der Stunden immer hektischeren Versuche.
    Nachdem ich mich ein paar weitere Tage gequält hatte, kam ich zu dem Schluss, dass ich etwas unternehmen musste. Auf diesem Gebiet – etwas zu unternehmen – war ich noch nie besonders gut gewesen.
    Ich zermarterte mir das Hirn, und schließlich kam mir Sicuteri in den Sinn.
    Sicuteri war ein alter Klassenkamerad aus Gymnasiumszeiten, der bei der Finanzpolizei gelandet war. Er war der einzige Polizist, den ich gut genug kannte, um ihn um Rat und vielleicht um Hilfe zu bitten.
    Ich rief in seiner Dienststelle an, wurde unerwartet schnell zu ihm durchgestellt, und als ich ihm erklärte, ich müsse etwas mit ihm besprechen, sagte er, wenn es dringend sei, könnte ich sofort zu ihm ins Büro kommen. Ich sagte, ich sei auf dem Weg, und ein paar Minuten später stand ich auf der Straße und hielt nach einem Taxi Ausschau.
    Als der Gefreite an Sicuteris Tür klopfte, um mich anzukündigen, überfiel mich eine kurze Panik.
    Wie hieß er noch? Enrico oder Ernesto? Wie stehe ich denn da, wenn ich das jetzt falsch mache? Ich verliere echt den Verstand, kein Wunder, denn … Ach, nein. Tamborra hieß Ernesto. Rossi, Sicuteri, Tamborra, Travi.
    »Hallo, Marco. Es muss mindestens zehn Jahre her sein, dass wir uns gesehen haben, oder?«
    »Ja, mindestens. Hallo, Enrico.« Ohne zu zucken, hielt er mir mit einem selbstverständlichen Lächeln die Hand hin, und ich atmete auf, weil ich offenbar richtig gelegen hatte. Wir plauderten ein paar Minuten, und dann, nachdem er mich gefragt hatte, ob ich nach zehn Jahren aufgetaucht sei, um in alten Schulerinnerungen zu schwelgen, erläuterte ich ihm den Grund meines Besuches.
    »Also, ich brauche so eine Art Beratung …«
    »Was hast du dir eingebrockt?«
    »Gar nichts. Es ist nur so, dass …«
    Ich merkte, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich die Sache darstellen sollte. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen und mich als das bloßstellen, was ich war? Als halluzinierender Geistesgestörter im Endstadium der chronischen – und bis dahin glücklicherweise asymptomatischen – Krankheit, die mich dazu gebracht hatte, mich um Autoren und ihre Geschichten zu kümmern?
    Oder sollte ich ihm irgendein Märchen erzählen, das er, zumal ich mich nicht vorbereitet hatte, sofort durchschauen würde, was ziemlich peinlich werden würde?
    Ich entschied mich für die Wahrheit. Mit ein paar unvermeidlichen Auslassungen.
    »Du weißt doch, was ich von Beruf bin, oder?«
    »Ich könnte nicht genau sagen, was, aber es hat was mit Verlagsarbeit zu tun, du arbeitest für

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