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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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Haltung – mein Gott, welche Körperhaltung, welche Geste konnte sie nach all den Jahren nicht entziffern wie eine Hinweistafel? –, und sie wusste, was sie zu bedeuten hatte: Er dachte darüber nach. Die heftigsten Emotionen waren verraucht.
    »Schau mal.« Annas Beine prickelten wie von Tausenden Nadelstichen. Sie ließ sich von ihrem Hochsitz rutschen und blieb auf der anderen Seite der Küchentheke stehen. »Ich hab ja auch Angst, aber wir müssen da jetzt durch.«
    Tom seufzte und starrte weiter in seinen Drink. »Ich will einfach nicht, dass dir irgendwas …«
    Er verstummte, das »passiert« blieb unausgesprochen. Wie immer wollte er sie beschützen. Anna war gerührt, aber auch irritiert – sie brauchte jetzt keinen Ritter in lockerer Geschäftskleidung, sondern einen Partner, auf den sie sich verlassen konnte, einen, der voll bei der Sache war. »Ich weiß, Liebling, ich weiß.« Sie nahm seine Hand. »Aber mir wird schon nichts passieren. Wir werden vorsichtig sein. Wir werden nichts mehr von dem Geld ausgeben. Am besten vergessen wir ganz, dass wir es haben, und leben unser Leben genau wie vorher. Niemand wird einen Grund haben, uns zu verdächtigen. Und wenn irgendwas schiefgeht, können wir immer noch zur Polizei gehen.«
    Tom spielte mit dem Whiskeyglas, ließ es auf der Kante rotieren und blickte in die Tiefe des goldenen Wirbels.
    »Okay?«, fragte sie.
    Er zuckte die Achseln. »Ich finde das alles furchtbar. Und ich meine, scheiß auf das Geld. Wirklich.«
    Anna schnaubte.
    »Glaubst du mir nicht?«
    »Ich kann einfach nicht glauben, dass du das noch extra sagen musst.« Sie legte eine Hand auf seine Wange und strich über die blauschwarzen Bartstoppeln. »Ich kenn dich doch, Baby, besser als irgendwer sonst.« Sie lächelte und ließ den Blick über die vertrauten Fältchen um seine Augen schweifen, die feinen Linien auf seiner Stirn. »Betrachte es nicht als Geld. Ums Geld ist es nie gegangen.«
    »Worum denn dann?«
    Die Frage ließ sie zusammenzucken. Anna hatte geglaubt, dass sie beide denselben Plan verfolgten, dass es für sie beide nur einen einzigen Grund gegeben hatte, das Geld zu nehmen, einen ganz einfachen Grund, den einfachsten Grund der Welt – die einfachste Sache der Welt, die bloß für sie zwei so kompliziert war. Einen Moment lang blickte sie ihn wortlos an, bevor sie um die Theke herumtrat und vor ihm stehen blieb. Sie nahm seine Hand, die ihr immer so viel größer und rauer vorkam als ihre eigene, schob ihre Bluse nach oben und legte seine Handfläche auf ihren Bauch. Und schaute ihn einfach nur an, ließ ihn die Wärme spüren.
    Schließlich nickte er, langsam und zögerlich. »In Ordnung.«
     
    Anna war immer noch wach.
    Tom lag auf dem Rücken, ein Arm hing von der Bettkante, die Decke war um seine Hüften gewickelt. Anna stützte sich auf einen Ellbogen und betrachtete die Konturen seines Gesichts im fahlen Schein des Radioweckers. Wie oft waren sie schon gemeinsam ins Bett gegangen? Tausende Male, unzählige Male. Tausendmal gemeinsam Zähne putzen, gemeinsam waschen. Tausend anstrengende Gespräche über unbezahlte Rechnungen, tausend Erzählungen vom vergangenen Tag, tausend leidenschaftliche Umarmungen. Der Geruch seiner Haut, seines Haars stieg ihr in die Nase. Sein leises Schnarchen schwoll an und verebbte vor dem Hintergrund des gleichmäßigen Rauschens der Regenmaschine. Anna hatte ihm vorgelogen, dass sie den Rhythmus der Maschine mochte; sie hatte es nie übers Herz gebracht, ihm die Wahrheit zu sagen: dass der künstliche Regen sein Schnarchen übertönte.
    Unter ihren nackten Füßen fühlte sich der Holzboden kühl an. Anna trat leicht auf und achtete darauf, die Stelle zu umgehen, an der es immer knarrte. Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und pinkelte im Dunkeln, spülte und knipste schließlich das Licht an. Sie musterte sich im Spiegel, wie sie dastand, nackt bis auf die Baumwollpants und ein weißes T-Shirt, mit unordentlichem Haar und geröteter Haut. Sie starrte sich an, starrte immer weiter, bis sie es nicht mehr ertrug, daran zu denken.
    Anna nahm ihren Bademantel vom Haken an der Tür, löschte das Licht und schlich in den Flur.
    Nachts war das Haus von Geistern bevölkert. Die gewohnte Umgebung verwandelte sich – die Küchentheke erhob sich wie ein schlafender Riese, der Tisch und die Stühle verschmolzen zu einem Käfer mit zahllosen Beinen.
    Vorsichtig schob Anna die Hintertür auf. Die Treppe war alt und rutschig, das einzige

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