Im Bann des blauen Feuers
des Dachs und starrte nachdenklich in die Tiefe. Der leichte Wind, der an seiner schwarzen Lederjacke zog und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen versuchte, störte ihn nicht. Er fürchtete sich nicht vor großen Höhen. Ganz im Gegenteil! Manchmal hatte er das Gefühl, erst richtig aufzuleben, wenn er sich Hunderte von Metern über dem Erdboden befand. Hier oben, auf dem Dach des Tour Cœur-Défense , gelang es ihm manchmal tatsächlich zu vergessen, was sie ihm angetan hatten.
Unwillig schüttelte er den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Moment, um darüber nachzudenken. Es gab andere – wichtigere – Dinge, um die er sich zu kümmern hatte.
Zum Beispiel die Frage, was es mit diesem Mädchen, Céleste Corbeau, auf sich hatte.
Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Auf den ersten Blick schien sie ein ganz normaler Mensch zu sein. Zudem jung. Viel zu jung jedenfalls, um auf der Patina der Geschichte bisher mehr als einen schwachen Fingerabdruck hinterlassen haben zu können.
Und doch zweifelte er nicht daran, dass sie diejenige war, auf die man ihn angesetzt hatte.
Bei dem Gedanken daran, dass man ihn jetzt zu einer Art Söldner degradiert hatte, umspielte ein bitteres Lächeln seine Lippen. Aber er wusste auch, wem er dies zu verdanken hatte – und eines Tages würde diese Person für alles büßen, was er in den letzten Jahren hatte erdulden müssen.
Spätestens dann, wenn er wieder er selbst war, würde die Stunde der Rache kommen. Und wenn er sich nicht sehr täuschte, würde Céleste seine Eintrittskarte zurück sein.
Sie glaubten vielleicht, ihn in der Hand zu haben, doch sie irrten sich. So leicht würde er es ihnen nicht machen. Sie würden sich noch wundern.
Er wollte keine Almosen. Nein, er wollte seine alte Existenz zurück. Und deshalb würde er den Teufel tun und ihnen das Mädchen einfach so übergeben.
Jedenfalls nicht, ehe er herausgefunden hatte, was sie so wertvoll machte – und wie er dieses Wissen für sich nutzen konnte …
Aufgeregt drehte sich Céleste vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer hin und her. Es war fast sieben Uhr. Sie hatte Félix vor ein paar Stunden angerufen, um ihn um einen freien Tag zu bitten, den er ihr – wenn auch grummelnd – gewährt hatte. In ein paar Minuten würde Philippe sie abholen (sie hatte ihm sicherheitshalber später noch erklärt, wo sie wohnte, obwohl er es tatsächlich gewusst zu haben schien), und sie fühlte sich, was ihr Outfit für den Abend betraf, noch immer unsicher.
Normalerweise trug sie bevorzugt Jeans, bequeme Shirts und flache Schuhe. Entsprechend ungewohnt war der eigene Anblick in dem hübschen Sommerkleid für sie, das sie sich auf die Schnelle noch von ihrer Freundin Beatrice geliehen hatte – ebenso wie die hochhackigen Schuhe, in denen sie kaum gehen konnte.
Schlecht sah es nicht aus. Im Gegenteil sogar: Ihr schwarzes Haar hatte einen bläulichen Schimmer, auf den sie sehr stolz war. Und obwohl sie trotz ihrer fast einundzwanzig Jahre noch immer ein wenig mit Babyspeck zu kämpfen hatte, hatte sie eine recht gute Figur. Außerdem mochte sie ihre vollen Lippen und die smaragdgrünen Augen. Aber irgendwie fühlte Céleste sich, als würde sie in einer Verkleidung stecken. Das war einfach nicht sie selbst. Deshalb zog sie das Kleid auch hastig wieder aus, warf es aufs Bett und schlüpfte stattdessen in ihre üblichen Klamotten. Nein, nicht einmal Philippe war es wert, dass man sich für ihn derartig verbog!
Sie zog sich gerade den zweiten Schuh an, als es an der Haustür klingelte. Schon hörte sie, wie unten im Erdgeschoss jemand öffnete. Mit einem unterdrückten Fluch stolperte sie mit dem halb angezogenen Schuh hinaus auf den Korridor. Gerade rechtzeitig, um zu verhindern, dass Tante Marie ihren Schwarm abwimmelte.
„Es tut mir leid, aber Céleste hat heute Abend andere Verpflichtungen. Ich …“
„Tante Marie, was soll das?“, rief sie vom oberen Treppenabsatz herunter. „Wartest du bitte kurz draußen, Philippe?“, wandte sie sich an ihn. „Ich muss nur noch kurz etwas mit meiner Tante besprechen und komme dann sofort nach, okay?“
Falls Philippe die ganze Sache merkwürdig vorkam, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken, wofür Céleste ihm sehr dankbar war. Er nickte bloß, wünschte Tante Marie höflich einen schönen Abend, drehte sich um und ging durch den Vorgarten zurück zur Straße.
Céleste setzte sich auf die oberste Stufe und zog sich den Schaft ihrer Doc Martens über
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