Im fünften Himmel

vergeben, wenn sie diesen Flug verpasst – wie sie ihr schon so viele unabsichtliche Beleidigungen und Versäumnisse verziehen haben –, aber sie wird sich selbst nicht vergeben.
    Ich darf diesen Flug nicht verpassen , wiederholt sie noch einmal stumm, ehe sie beschließt, eher ihren eigenen Füßen als der Technik zu vertrauen, die letzte einer Reihe von Entscheidungen, die zusammengenommen zu all dem führen, was folgen wird.
DREI
    Â»Dies ist der letzte Aufruf für Passagier Jessica Darling.«
    Nachdem Marcus es zum ersten Mal gehört hat, hört er beim zweiten Mal besonders aufmerksam zu, um sicherzugehen, dass tatsächlich ihr Name ausgerufen wird und es kein Phantom-Echo in seinem Kopf war.
    Â»Dies ist der letzte Aufruf für den Clear-Sky-Flug 1884, nonstop nach St. Thomas auf den Jungferninseln. Letzter Aufruf für Passagier Jessica Darling.«
    Jessica Darling. Es ist Jahre her, dass er den vollen Namen laut ausgesprochen gehört hat. Natürlich ist Jessica Darling analysiert, abgeklopft und auseinandergenommen worden, in Gesprächen mit Freunden, Verwandten und fast Fremden aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Als Gesprächsthema ist Jessica Darling in den Pronominalstatus erhoben worden – nicht etwa abgesunken. Hast du sie gesehen? Was macht sie denn inzwischen so? Wenn jemand solche Fragen stellt, gibt es keinen Zweifel, wer mit »sie« gemeint ist. Aber in letzter Zeit sind sie nicht mehr gestellt worden, nicht seit Marcus – dem äußeren Anschein und seinem Verhalten nach – endlich über sie hinweggekommen ist.
    Selbst nachdem er ihren Namen einmal, jetzt zweimal gehört hat, braucht Marcus noch Bestätigung von außen. Er packt seinen Freund Natty am Revers und fragt ihn.
    Â»Nein, Mann«, versichert Natty. »Ich hab ihren Namen nicht gehört. Und du auch nicht.« Nattys scharfer Ton kann Marcus’ erwartungsfrohe, großäugige Miene nicht trüben. »Und selbst wenn du ihren Namen gehört hättest, ist das auf keinen Fall sie . Und jetzt lass mich los, ich muss pissen.«
    Natty lässt Marcus zwischen dem Eingang zur Männertoilette und der Betty-Boop-Statue aus Glasfaser stehen, die Kunden in den Fake-retro-»Garden State Diner« locken soll, damit sie vorm Flug noch eine fettige Mahlzeit zu sich nehmen. Marcus fühlt sich überreizt, überbelichtet, als sei sein ganzer Körper auf Wahrnehmungsalarm. Seine Nerven klirren und klappern wie die schmutzigen Bestecke, die von überarbeiteten Abräumern achtlos in Plastikschalen geschmissen werden. Er versucht sich mit einer Reihe tiefer Atemzüge zu beruhigen, doch vom Einatmen der Cheeseburger-Abgase wird ihm noch unwohler. Die Alarmsignale in seinem Nervensystem lassen an das unberechenbare Verhalten von Tieren vor Naturkatastrophen denken: eine Massenflucht von Elefanten, die in höhere Regionen streben, unter Türrahmen heulende Hunde, an Käfigen kratzende Kaninchen, aus dem Winterschlaf geschüttelte Schlangen, die durch den Schnee gleiten. Auch seine Instinkte drängen ihn zur Flucht. Im halben Laufschritt entfernt er sich vom Diner und steuert auf die blau leuchtenden Monitore zu, die Ankünfte und Abflüge auflisten.
    Bei der Suche nach Flug Clear Sky 1884 versucht Marcus, Nattys Argumente zu akzeptieren. Hat seine Jessica Darling nicht oft genug darüber gescherzt, wie sie mit einer Pornodarstellerin gleichen Namens verwechselt wurde? Vielleicht wurde ja die nicht jugendfreie Jessica Darling ausgerufen oder sogar eine dritte, noch unbekannte Jessica Darling, die mit den ersten beiden nichts als den Namen gemeinsam hat. Eine neugeborene Jessica Darling. Eine Großmutter Jessica Darling. Eine afroamerikanische, asiatische, lateinamerikanische, pazifische oder sonstige Jessica Darling, die mit Flug Clear Sky 1884 nach St. Thomas will, nicht seine Jessica Darling, nicht die, der er vor über drei Jahren einen Heiratsantrag gemacht hat, nicht die, mit der er nicht mehr gesprochen, die er nicht mehr gesehen hat, seit er still hingenommen hat, dass ihre Antwort Nein lautete.
    Er hat ihn gefunden: Gate C-88. Flug Clear Sky 1884 nach St. Thomas geht vom Gate C-88.
    Was kann es schaden, mal hinüber zum Gate C-88 zu schlendern und nachzusehen, welche Inkarnation von Jessica Darling da ausgerufen wird? Überhaupt nichts, außer der kleinen Peinlichkeit, sich auf eine Chance von eins zu sechs