Im Herzen Rein
des Verbrechens den »Architekten« herauszulesen, wie er kürzlich im Fernsehen gesagt hatte. In Deutschland war das noch unüblich.
Sie war auf dem Weg ins Archiv, um die Prozessakten durchzusehen, in denen der Richter sich ihrem hohen Strafmaß als Anklägerin angeschlossen hatte.
Jetzt hoffte sie, Hubertus Bach könnte ihr irgendetwas über den Täter sagen. »Was für ein Typ ist denn überhaupt zu so etwas fähig?«
Er überlegte. »Ein Serienmörder«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Ein Serienmörder«, wiederholte er. »Dieser Mörder hat sicher schon vor dieser Tat Gewaltdelikte begangen. Habt ihr schon etwas herausgefunden?«
Er warf einen kurzen Blick auf sein Handy, steckte es aber gleich wieder weg. Hatte er nach der Uhrzeit gesehen? Sie wusste, dass er sehr beschäftigt war, wollte ihn aber jetzt nicht gehen lassen.
»Wir sind erst am Anfang der Ermittlungen. Wie kommst du darauf, dass es ein Serienmörder sein könnte?«
Er klemmte seine Aktentasche unter den Arm. »Wie du die Tat beschreibst, steckt in der Durchführung des Verbrechens so viel Energie, dass ich mit weiteren Auftritten rechne. Dieser Mann hat nicht im Affekt eine Nachbarin erschlagen - er hat eine Welt herausgefordert.« Er überlegte einen Augenblick. »Oder eine Person.«
»Wie meinst du das?«
»Er könnte seine Mutter hassen. Ich kenne einen Fall, da hat der Täter sechs Frauen das angetan, was er eigentlich seiner Mutter antun wollte.«
»Wie habt ihr das herausgefunden?«
»Die Mutter war sein siebentes Opfer.«
»Grauenhaft.« Chris schoss durch den Kopf: Und wenn so einer sie als Opfer im Visier haben sollte?
»Man muss erst einmal das gerichtsmedizinische Gutachten abwarten. Wann ist die Obduktion?«
»Am Nachmittag.«
»Und wer macht sie?«
»Der Gerichtsmediziner, der am Tatort war, Dr. Kirch.«
»Ach der.«
»Was heißt ach der ?«
»Es gibt hochintelligente Menschen, mit denen man solche schwierigen Fälle lösen kann. Der homo normalus hingegen fabriziert die Fehler selbst, an denen er dann scheitert.«
»Und wer ist so ein zuverlässiger Mann in der Gerichtsmedizin?«
»Professor Klaus Posch. Er ist der Leiter der Gerichtsmedizin an der Charité.«
»Was kann denn bei einer Obduktion schiefgehen?«
»Im schlimmsten Fall kann übersehen werden, dass die Frau schon tot war, bevor die vermeintliche Mordwaffe eingesetzt wurde. Es kann auch sein, dass diese Inszenierung auf der Parkbank der Verschleierung des eigentlichen Verbrechens dienen soll. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Der Gerichtsmediziner muss alle Spuren an der Leiche genau erkennen und richtig deuten. Davon hängt die Aufklärung ab. Nach der Obduktion kann ich dir vielleicht mehr sagen.« Er schaute zur Uhr. »Du hast meine Handynummer.«
Sie ging Richtung Treppe und drehte sich noch einmal um. Bach stand immer noch da und sah ihr nach.
»Du gehst doch zur Obduktion?«, rief er.
»Natürlich.« Sie winkte ihm zu und rannte die Treppe hinunter zum Archiv.
Dort verbrachte Chris die Zeit bis zum Mittag. Alle Verfahren, die sie in den letzten drei Jahren bis zur Verurteilung des Täters geführt hatte, betrafen Delikte gegen Frauen. Sie versuchte sich an die zu erinnern, die mit Wut und Hass auf das Urteil reagiert hatten. Manche saßen noch in Moabit ein. Von ihrem neuen Büro aus konnte sie die Strafvollzugsanstalt sehen. Der Leiter hatte ihr oft von Drohungen der Strafgefangenen berichtet. Sie interessierte sich aber nur für die Entlassenen.
Sie ging systematisch und gründlich vor, Akte für Akte.
Auf dem Deckblatt jeder Akte standen die Daten, die Chris für ihre Erinnerung reichten. Hinter den Urteilen verbargen sich bittere Wahrheiten: sexueller Missbrauch, Misshandlungen, Schizophrenie, Wahnvorstellungen - die ganze Vielfalt des Bösen. Bach hatte ihr zu Anfang des Gesprächs gesagt, der Mörder habe sicher schon vorher Gewaltdelikte begangen.
Einen Fall las sie ausführlich. Er war ihr damals schon nahegegangen. Das Opfer war eine Chilenin. Eine freundliche Frau mit sanften Augen. Sie war aus ihrem Heimatland emigriert und hatte die Eltern zurücklassen müssen, weil sie als Opfer des Regimes schon zu krank waren. Gleich bei ihrer Ankunft in Deutschland hatte sie im Zug einen Mann kennengelernt, der sich als Kaufmann ausgab und bereit war, ihr zu helfen und eine Wohnung zu besorgen. Sie war nicht misstrauisch, weil sie aus Chile solche Hilfsbereitschaft gewöhnt war. Wenn sich die Menschen dort nicht gegenseitig halfen,
Weitere Kostenlose Bücher