Im hohen Gras
waren ebenfalls rote Löcher, die noch feucht wirkten, weil … weil …
Weil sie noch nicht lange tot ist, dachte Becky. Wir haben sie schreien gehört. Wir haben sie sterben gehört.
»Die Familie ist schon ’ne Weile hier«, sagte Ross Humbolt in einem kumpelhaften, vertraulichen Ton, während er seine mit Grasflecken verschmierten Finger um Beckys Hals schloss. Er stieß auf. »Da kriegt man schon mal Hunger. Kein McDoof weit und breit! Das Wasser aus dem Boden kann man halbwegs trinken – ist zwar sandig und verdammt warm, aber nach ’ner Weile gewöhnt man sich dran. Wir sind jetzt nämlich schon seit Tagen hier. Wenigstens konnte ich mir den Bauch vollschlagen. Ich bin jetzt ratzeputze satt.« Er näherte sich mit den blutbefleckten Lippen, und seine Bartstoppeln kitzelten sie, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Möchtest du den Fels sehen? Möchtest du nackt darauf liegen und mich in dir spüren, hier unter dem Sternenhimmel, während das Gras unsere Namen singt? Poetisch, was?«
Sie holte tief Luft und wollte losschreien, brachte aber keinen Ton heraus. Auf einmal war ihre Lunge entsetzlich leer. Er drückte ihr die Daumen in die Kehle und quetschte Muskeln, Sehnen und Gewebe zusammen. Ross Humbolt grinste. Seine Zähne waren rot, aber die Zunge war gelblich grün. Sein Atem roch nach Blut und nach frisch gemähtem Rasen.
»Das Gras hat viel zu erzählen. Man muss nur richtig zuhören können. Du musst lernen, die Sprache des hohen Grases zu verstehen, Schätzchen. Der Fels weiß alles. Wenn du erst mal den Fels gesehen hast, wird dir alles klar werden. Ich hab in zwei Tagen mehr von diesem Fels gelernt als während meiner Ausbildung in zwanzig Jahren.«
Er beugte seinen Oberkörper über sie, dass ihr Rückgrat sich nach hinten krümmte. Wie ein hoher Grashalm im Wind. Sein grüner Atem strich ihr übers Gesicht.
»Zwanzig Jahre lang gebüffelt, und dann ab in die Tretmühle«, sagte er und lachte. »Ziemlicher Knaller, was? Dylan. Ein Kind Jahwes. Der Barde aus Hibbing, ohne Witz. Ich sag dir was. Der Stein in der Mitte vom Feld ist ein guter alter Stein, aber es ist auch ein durstiger Stein. Der war schon in der Tretmühle, da gab es längst noch keinen roten Mann, der in den Osage Cuestas gejagt hätte, der schuftet schon, seit ihn ein Gletscher während der letzten Eiszeit hierhergebracht hat, und bei Gott, Mädchen, was hat der für einen Durst!«
Sie wollte ihm das Knie in die Hoden rammen, aber das war alles viel zu anstrengend. Sie konnte das Bein gerade einmal ein paar Zentimeter heben und musste es dann wieder absetzen, mehr brachte sie nicht zustande. Hoch und runter. Hoch und runter. Als würde sie in Zeitlupe wie ein Pferd, das aus dem Stall gelassen werden wollte, mit dem Fuß aufstampfen.
Am Rand ihres Gesichtsfeldes explodierten Sternbilder aus schwarzen und silbernen Funken. Lauter Spiralnebel am Firmament, dachte sie. Es war sonderbar faszinierend, dabei zuzuschauen, wie Universen geboren wurden und vergingen, Gestalt annahmen und wieder verschwanden. Bald würde sie selbst auch verschwinden, das war ihr klar. Aber so schlimm kam ihr das gar nicht vor. Nichts, weswegen sie dringend etwas unternehmen müsste.
Von weit her hörte sie Cal nach ihr rufen. Wenn er sich vorhin schon in Manitoba befunden hatte, dann war er jetzt in Manitoba einen Grubenschacht hinuntergeklettert.
Sie schloss die Hand um den Schlüsselbund in ihrer Tasche. Die Zähne der Schlüssel gruben sich ihr in die Handfläche. Bissen hinein.
»Blut ist lecker, Tränen sind besser«, sagte Ross. »Für einen durstigen alten Fels wie ihn. Und wenn ich dich auf dem Stein ficke, dann bekommt er beides. Das muss allerdings schnell gehen. Schließlich will ich das nicht vor dem Kind tun.« Sein Atem stank zum Himmel.
Sie zog den Schlüsselbund aus der Tasche, wobei die Spitze des Hausschlüssels zwischen Zeige- und Mittelfinger herausragte, und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Sie wollte ihn nur wegstoßen, damit sie nicht mehr den grünen Gestank roch, der seinem Mund entströmte. Ihr Arm war kraftlos, und der Schlag glich eher einem trägen, freundschaftlichen Knuff – aber der Schlüssel erwischte ihn unter dem linken Auge, kratzte ihm über die Wange und ließ eine ausgefranste Wunde zurück.
Humbolt riss den Kopf nach hinten. Einen Moment lang lockerte sich sein Griff, und seine Daumen krallten sich ihr nicht mehr in die Halsgrube. Kurz darauf packte er wieder fest zu, aber inzwischen hatte sie tief Luft
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