Im Innern des Wals
sich der Geschmack des Intellektuellen und des einfachen Mannes auf der Straße auf einer emotionellen Ebene treffen. Der Intellektuelle unterscheidet sich vom einfachen Mann aber nur in einigen Teilen seiner Persönlichkeit, und selbst dort nicht immer. Was zeichnet nun ein gutes schlechtes Gedicht aus? Ein gutes schlechtes Gedicht ist so etwas wie ein anmutiges Denkmal des Offensichtlichen. Es fixiert in einprägsamer Form – denn der Vers ist ein mnemotechnisches Hilfsmittel, unter anderem – ein Gefühl, das so gut wie jedes menschliche Wesen teilen kann. Es macht den Wert eines Gedichtes wie »When all the World is Young, Lad« aus, daß man, so sentimental es sein mag, selbst zwangsläufig früher oder später den darin vorgedachten Gedanken selber denkt. Kennt man das Gedicht, so wird es einem immer wieder in den Sinn kommen, man wird es besser finden, als es anfänglich schien. Solche Gedichte sind eine Art gereimtes Sprichwort, und es ist eine Tatsache, daß Dichtung, die sich endgültig bei den Volksmassen durchgesetzt hat, für gewöhnlich gnomisch oder sentenziös ist. Ein Beispiel von Kipling wird genügen:
White hands cling to the bridle rein,
Slipping the spur from the booted heel;
Tenderest voices cry ‘Turn again!’
Red lips tarnish the scabbarded steel:
Down to Gehenna or up to the Throne,
He travels the fastest who travels alone.
[Weiße Hände umschlingen den Zaum, streifen den Sporn vom gestiefelten Fuß; Zarteste Stimmen rufen »Kehr wieder um!« Rote Lippen trüben den Stahl in der Scheide: Abwärts zur Hölle oder aufwärts zum Thron; der reist am schnellsten, der reist allein.]
Hier kommt ein banaler Gedanke kraftvoll zum Ausdruck. Er mag unecht sein, ist aber auf jeden Fall ein Gedanke, den jeder denkt. Früher oder später wird man nachempfinden, daß der am schnellsten allein reist, der allein reist, und da liegt der Gedanke in einer endgültigen Fassung vor, so als ob er auf einen gewartet hätte. So spricht alles dafür, daß einem die einmal gehörten Verse wieder ins Gedächtnis kommen.
Einen Grund für Kiplings Wirkung als guter schlechter Dichter habe ich bereits angedeutet – sein Verantwortungsgefühl, das ihm zu einer Weltanschauung verhalf, auch wenn sie leider zufällig war. Obwohl er nicht in direkten Beziehungen zu irgendeiner politischen Partei stand, war er ein Konservativer, etwas also, das es heute nicht mehr gibt. Diejenigen, die sich heute als konservativ bezeichnen, sind entweder Liberale oder Faschisten oder faschistische Komplizen. Er identifizierte sich mit der herrschenden Macht und nicht mit der Opposition. Bei einem begabten Schriftsteller erscheint uns das seltsam und sogar widerwärtig, es hatte aber für Kipling den Vorteil, daß er etwas Wirklichkeit in den Griff bekam. Die herrschende Macht sieht sich fortgesetzt vor der Frage »Was ist unter den gegebenen Umständen zu tun?«, während die Opposition keine Verantwortung hat und sich nicht wirklich entscheiden muß. Wo es sich um eine permanente und pensionierte Opposition handelt, wie in England, nimmt die Qualität ihres Gedankenguts entsprechend ab. Zudem wird jeder, der schon mit einer pessimistischen, reaktionären Weltanschauung ins Leben tritt, dazu neigen, sich durch die Ereignisse gerechtfertigt zu sehen, denn Utopia kommt nie und »die Götter der Schönschreibheft-Sentenzen«, wie Kipling selbst sich ausdrückt, die kommen immer wieder. Kipling verkaufte sich an die herrschende britische Klasse, nicht finanziell, sondern emotionell. Das verzerrte sein politisches Urteil, denn die herrschende Klasse war nicht das, was er sich vorstellte, und das führte ihn zu Abgründen der Torheit und des Snobismus, aber es verschaffte ihm den entsprechenden Vorteil, daß er wenigstens versuchte, sich Handeln und Verantwortung vorzustellen. Es spricht sehr für ihn, daß er nicht witzig ist und nicht »verwegen«, daß er nicht den Wunsch hatte, d’épater le bourgeois . Er ging vor allem mit Gemeinplätzen um, aber da wir in einer Welt von Gemeinplätzen leben, sitzt noch viel von dem, was er sagte. Selbst seine schlimmsten Torheiten scheinen weniger schal und weniger irritierend als die »aufgeklärten« Äußerungen derselben Epoche, wie etwa Oscar Wildes Epigramme oder die versammelten Witzknallfrösche am Ende von Mensch und Übermensch (von George Bernard Shaw, 1905).
Horizon , Februar 1942
Wells, Hitler und der Weltstaat
»Im März oder April, sagen die Neunmalklugen, wird ein gewaltiger
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