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Im Dunkel der Waelder

Im Dunkel der Waelder

Titel: Im Dunkel der Waelder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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    Es regnet. Ein heftiger, dichter Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Ich höre, wie der Wind an Fenstern und Türen rüttelt. Yvette eilt geschäftig umher, schließt die Fensterläden, legt die Riegel vor. Gleich wird sie mir das Abendessen bringen. Ich werde nichts anrühren, ich habe keinen Hunger. Sie wird darauf bestehen, daß ich etwas esse, wird böse werden. Sie wird mir sagen: »Kommen Sie schon, Elise, bitte, Sie müssen etwas essen, Sie müssen schließlich wieder zu Kräften kommen.« Blödsinn. Die einzigen Kräfte, über die ich verfüge, sind die, die meine inneren Funktionen am Laufen halten. Ich leide an Tetraplegie, einer gleichzeitigen Lähmung aller vier Gliedmaßen. Und, als würde das noch nicht reichen, habe ich das große Los gezogen: »Leider müssen wir unsere Sendung wegen einer Bild- und Tonstörung unterbrechen.« Ich bin stumm, blind und kann mich nicht rühren. Um es auf den Punkt zu bringen: eine lebende Leiche. Yvette kommt, ich höre ihre raschen Schritte.
    »Zeit fürs Abendessen!«
    Das Abendessen besteht für gewöhnlich aus einem proteinhaltigen Gemüsebrei, den man mir mit einem Teelöffel verabreicht. Er ist zu heiß, ich versuche mich zu wehren. Ich nehme an, daß Yvette verzweifelt das Gesicht verzieht. Ich erinnere mich noch gut an ihr rundes, von blondem Haar umrahmtes Gesicht mit dem milchigen Teint. Sie ist Eisenbahnerwitwe, um die sechzig, kräftig gebaut und gut zu Fuß. Sie arbeitet seit fast dreißig Jahren als Haushälterin bei uns in der Familie. Yvette erinnert sich besser an meine Mutter als ich. Als meine Mutter »in den Himmel kam«, war ich erst fünf Jahre alt. Und als vor sieben Jahren mein Vater starb, zog ich wieder hierher, und Yvette führte mir von da an den Haushalt. Nun pflegt sie mich. Die Krankenschwester hat ihr die notwendigen Handgriffe beigebracht. Arme Yvette, sie muß mich waschen, füttern, saubermachen. Sie hat sich sicherlich schon oft meinen Tod gewünscht. Und ich, wie oft habe ich ihn mir schon gewünscht?
    Ich frage mich, ob es wohl dunkel ist. Wir haben Ende Mai. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob es zu dieser Jahreszeit gegen sieben oder acht dunkel wird. Und ich kann Yvette nicht fragen. Ich kann niemanden etwas fragen. Meine Körperfunktionen sind gestört.
    Es passierte letzten Herbst, als wir Urlaub in Irland machten. Benoît und ich. Es war der 13. Oktober 1994. Ich erinnere mich genau, was er an jenem Tag trug: Eine marineblaue Hose, einen Pullover in der gleichen Farbe und blaue Tennisschuhe. Ich selbst trug Jeans und einen weißen Rollkragenpullover. Und dazu weiße, ganz neue Turnschuhe. Jetzt habe ich Pantoffeln an den Füßen und fast immer ein Nachthemd an. Aber die Farbe meines Nachthemds kenne ich nicht …
    Benoît und ich machten damals einen Abstecher nach Nordirland. Giant’s Causeway. Belfast. An jenem Morgen in Belfast wollten wir zur Bank, um ein paar Travellerschecks einzulösen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, welche Tasche ich an jenem Tag dabeihatte. War es die blaue Ledertasche oder der bunte Rucksack? Solche unwichtigen Kleinigkeiten treiben mich schier zum Wahnsinn. An so vieles, was ich gesehen habe, kann ich mich nicht mehr erinnern! Dabei wäre es gerade jetzt so wichtig für mich.
    Nun, wir betraten die Bank, wobei ich die Glastür öffnete. Und in dem Augenblick passierte es. Die Explosion. Keine zehn Meter von uns entfernt stand ein Auto mit einer Sprengladung. Der Fahrer war natürlich sofort tot, vier Passanten starben. Und Benoît. Da war zuerst der Lärm, die enorme Detonation und gleichzeitig das Gefühl, in ein riesiges, loderndes Flammenmeer geworfen zu werden. Benoît packte mich am Arm, riß mich zu Boden. Wir wurden von einer Welle aus berstendem Metall und Glas erfaßt. Ich sah zwar, wie das Auto explodierte, hörte die Schreie, aber ich begriff nicht, nein, ich begriff nicht wirklich, daß es mir, Elise Andrioli, zustieß. Die Leute schrien. Ich sah, wie ein Glassplitter sich in Benoîts Kehle bohrte, wie das Blut – aber begriff ich wirklich, daß es Blut war? – herausschoß. Auch ich schrie. Irgend etwas traf mich am Kopf. Ich schloß die Augen. Seitdem habe ich sie nie wieder geöffnet.
    Ich lag fast zwei Monate im Koma. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in Frankreich, in Paris. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, daß mein Zustand nicht vorübergehend war. Daß ich weder jemals die Augen öffnen noch aufstehen würde. Daß ich weder mit den

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