Im Land der gefiederten Schlange
Marthe durch den Spalt zwängte. Mit schwacher Stimme rief sie ins Dunkel: »Vera?«
Aus der Schwärze drang keine Antwort. Auf einmal beschlich Marthe eine dumpfe Ahnung, eine Angst, die ihr das Herz zusammenpresste. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre davongerannt. »Vera?«, rief sie noch einmal und zwang sich, einen Schritt in das Gebäude zu setzen. Auch diesmal blieb die erhoffte Antwort aus.
Aller Angst zum Trotz rannte Marthe zwischen Kisten und Fässern in den Gang. »Vera, wo bist du?« Jetzt schrie sie, stieß einen der Stapel um und schrie Veras Namen in das dröhnende Gepolter. Nichts als das Echo des Lärms ertönte als Erwiderung. Jäh begriff sie: Vera war fort.
»Zu Hilfe!«, hörte sie sich schreien. Irgendwie musste Vera das Tor geöffnet haben und entflohen sein. Sie mussten die Stadt durchkämmen, jeden verpesteten Winkel, den Hafen, in dem die größte Gefahr lauerte, und die tiefschwarzen Wälder mit ihren Schlangen und brüllenden Affen. »So helft doch«, rief sie wieder, »meine Schwester ist weg!«
Ein Augenblick der Stille folgte, dann regte sich etwas. »Komm nicht näher, Marthe«, vernahm sie eine erloschene Stimme aus dem Dunkel. »Lass niemanden ein.«
Marthe aber war längst näher gekommen. Sie hatte sich an den Baumwollballen vorbeigedrängt und blieb stehen, als das Licht einer Stalllaterne sie blendete. Der gelbe Schein fiel auf das, was am Boden lag. Ein wachsbleiches Gesicht, verzerrte Züge, vor Entsetzen geweitete Augen. Blut, eher schwarz als rot, durchtränkte hellen Stoff. Der Schrei blieb Marthe in der Kehle stecken. Neben der Wunde blitzte die Klinge des gekrümmten Messers, der Machete, die die Indios benutzten, um Mais und Zuckerrohr zu schneiden. In der toten Hand glitzerte etwas. Die verfluchte Kette mit der Taube.
Er war es, wollte Marthe schreien, er ist ein Mörder. Sie wollte laufen und nach Hilfe rufen. Ihr Blick aber hing wie gefesselt an der goldenen Kette, und aus ihrer Kehle drang kein Laut.
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Erster Teil
Veracruz
Herbst 1838
»Niemand sah, wie ich aufbrach,
Nur ich allein und ein liebliches, kluges Mädchen …«
1
D as, was ihr als Sechsjährige im Hafen von Veracruz widerfahren war, hatte sich so tief in Katharinas Gedächtnis gebrannt, dass sie noch Jahre später davon träumte. Der Schrei der einzelnen Möwe, von der ihre Mutter behauptet hatte, dass es eine Taube war, blieb ihr als Echo für alle Zeit im Ohr.
Sie war mit ihrer Mutter in den Hafen gefahren, im Einspänner mit dem lustigen Pony. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie mitnahm. Schon damals hatte Katharina ihre Kinderfrau gehabt, eine steife, strikte Person namens Lise, die aus der Heimat stammte, sich ständig räusperte und bis zum Kinn geschlossene Blusen trug. Wenn Katharinas Mutter unterwegs war, blieb sie bei Lise, die ihr allerlei Nützliches beibrachte. Dass sie hübsche Augen hatte, brachte Lise ihr bei, aber grässliches Haar, und dass das grässliche Haar in Zöpfen an den Kopf geflochten werden musste, während die Augen bleiben durften, wie sie waren.
An jenem Morgen war Lise krank gewesen. Zu Katharina sagte sie häufig, Krankheit sei etwas für Faulpelze, doch in der Stadt grassierte ein Fieber, und Katharinas Vater verlangte, dass jeder, der Anzeichen verspürte, in seiner Kammer blieb. »Und was soll ich nun anfangen?«, hatte ihre Mutter ihn angeherrscht. »Ich habe Besorgungen zu machen, wo soll ich hin mit dem Kind?«
»Es ist ohnehin besser, wenn du daheimbleibst, solange das Fieber herrscht«, hatte ihr Vater, der sich durch Gezeter nie aus der Ruhe bringen ließ, erwidert. Dann hatte er seinen Hut aufgesetzt und sich wie jeden Morgen auf den Weg in sein Kontor gemacht.
Nichts wünschte Katharina sich sehnlicher, als ihre Mutter begleiten zu dürfen. Wo würden ihre Besorgungen sie wohl hinführen, etwa auf die berüchtigte Uferpromenade? Von jener Straße, die die Einheimischen Malecon nannten und die sich kilometerlang am silberblau glitzernden Meer erstreckte, träumte Katharina, seit ihr Freund Ben ihr davon erzählt hatte. Es gab Palmen dort, die in den Himmel ragten, Händler, die Süßigkeiten feilboten, Musikanten und weiße Schiffe, die mitunter sogar aus der Heimat kamen. Wenn Ben vom Malecon sprach, sah Katharina ein kunterbuntes Paradies vor sich, in den Worten der Mutter hingegen war die Promenade ein finsterer Ort, an dem man sich todbringende Seuchen holte oder Verbrechern in die Hände fiel. Sie würde Katharina,
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