Im Land der gefiederten Schlange
anhaben konnte.
Nur ins Haus wollte sie. Schlafen, trotz der Wärme und der fortwährend summenden Insekten, vergessen, was hinter ihr lag. Die Tränen, die sie auf den Wangen spürte, waren Tränen der Erschöpfung. In ihrem Schädel drehten sich Bilder, und an den Schläfen begann ein Pochen. Wieder taumelte sie gegen eine Wand, und diesmal versagten die Beine ihr den Dienst. Sie, Marthe Hartmann, die Starke, Unerschütterliche, sackte zusammen wie ein Bündel Lumpen. Das fremde Land, in dem die Vögel nicht sangen, sondern brüllten, hatte sie in die Knie gezwungen. Sie schlang die Arme um sich und ertastete den Riss an der Schulter ihres Kleides, der von Peters Händen stammte. Bei Gott, der sanfte Peter! Sie lehnte den Kopf an die Mauer, doch der Stein verschaffte ihr keine Kühlung. Nie im Leben hatte sie sich so allein gefühlt.
»Marthe?«
Sie zuckte zusammen. Die Stimme gehörte ihrem Bruder, aber wie konnte das sein? Christoph war nicht hier, er war in einem Gasthaus im Hafen, um mit Inga, dem verhuschten Ding, das er geheiratet hatte, die Hochzeitsnacht zu begehen, ehe sie in zwei von den Lutenburgs gemietete Zimmer zogen. Sie hatten ja nichts. Kein Haus, um die Braut heimzuführen, kein Geld für Hochzeitsnächte. Nicht einmal einen Pfarrer und kein bisschen Segen.
»Marthe«, wiederholte der Bruder. »Du musst ins Bett. Hier auf der Straße kannst du nicht bleiben.«
Sie blickte auf.
»Ich helfe dir«, sagte er, jedoch ohne ihr den Arm zu reichen. Stattdessen starrte er sie an, als würde er in dem Mädchen mit dem verheulten Gesicht und dem zerrauften Haar nicht seine Schwester erkennen, sondern La Llorona, den Geist der weinenden Frau aus den Legenden der Eingeborenen.
Marthe wollte etwas sagen, doch sie brachte nicht mehr hervor als: »Vera.«
Christoph schüttelte den Kopf. In der blauen Nacht war sein Gesicht so bleich wie vorhin, als es vor Entsetzen alle Farbe verloren hatte. »Sie ist im Kontor, wo Kurt sie eingeschlossen hat. Er will, dass sie dort bleibt, bis sie in die Heirat einwilligt.«
»Ich muss zu ihr!«
»Nicht heute Nacht.« Endlich entschloss sich Christoph, Marthe beim Arm zu nehmen und die Gasse entlangzuführen. »Du kannst jetzt nichts ausrichten. Gesagt worden ist ohnehin zu viel.«
Sie gingen weiter. Jeder Schritt erforderte Mühe. »Was machst du überhaupt hier?«, rang Marthe sich ab. »Wo ist Inga?«
»Im Hafen.«
»Wartet sie auf dich?«
Er zuckte traurig mit den Schultern. »Sie hat gesagt, sie weiß, dass meine Schwestern immer an erster Stelle stehen werden. Ich soll gehen, hat sie gesagt, denn in Gedanken bin ich ohnehin bei euch.«
»Es tut mir leid«, murmelte Marthe.
Christoph sagte nichts mehr. Sobald sie das Haus erreichten, schloss er auf und schob Marthe hinein. »Kommst du zurecht?«
Sie nickte, ohne zu wissen, ob er es im Dunkeln sah. Er zögerte, doch als sie sich schwankend zur Treppe begab, trat er vor die Tür der Kammer, die er seit Mai bewohnt und jetzt, mit seiner Hochzeit, aufgegeben hatte. »Christoph«, rief sie, »gehst du nicht wieder zu Inga?«
»Ich denke, ich bleibe besser hier«, gab er ausdruckslos zurück.
Um wen hatte er Angst? Heute Nacht gab es keine Vera zu bewachen, und außerdem hatte das immer Marthe getan. »Du glaubst doch auch, dass ich es ihnen sagen musste, oder? Ich habe es für uns getan, Christoph. Für die Familie.«
Er gab keine Antwort. »Leg dich schlafen.«
Marthe blieb stehen, bis seine Tür zuschlug, dann ging sie nach oben in ihre Kammer, zündete keine Kerze an, sondern zerrte sich das Kleid im Dunkeln vom Leib. In Unterröcken warf sie sich aufs Bett, fand jedoch keinen Schlaf. Im Zimmer war es noch stickiger als draußen, und ein Fenster durfte man nicht öffnen, weil dann die Nacht von Veracruz hereindrang – Insektenschwärme, Gegröle betrunkener Matrosen und warmer, wie vergifteter Wind.
Noch heftiger quälten sie Gedanken. Sie sah Vera vor sich, das kleine Mädchen mit dem schönen Haar, das stumm und seltsam in ihrem Hamburger Haus umhergegangen war, seine Schritte leicht wie Flügelschläge und sein leises Lachen ein Taubengurren. Das Haus hatte sie beschützt, der scheinbar florierende Handel des Vaters, das geordnete Leben, von dem Marthe geglaubt hatte, es würde auf alle Zeit so weitergehen. Dann aber war ihre Welt ins Wanken geraten. Auf einen Schlag hatten sie Halt und Heimat verloren, und der zarten Vera blieben nur mehr ihre Geschwister zum Schutz.
Sie muss denken, wir hätten
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