Im Land der Sehnsucht
kleine Flaschen aus der Kühltasche und gab Marissa eine davon. Dann zeigte er auf das Straßenschild. „In welcher Richtung mag ‚Wungalla‘ liegen?“
„Eine gute Frage“, erwiderte Marissa. Sie stürzte das Wasser hinunter, als wäre es himmlischer Nektar. „Wenn man die Neigung des Wegweisers berücksichtigt, kann es in jeder Richtung liegen … sogar dort, wo wir herkommen.“
„Wir sind eben im Outback“, meinte Riley stolz. „Du wirst dich daran gewöhnen, Ma.“
Er hatte sie wieder „Ma“ genannt. Obwohl Marissa ihn diverse Male aufgefordert hatte, sie mit ihrem vollen Vornamen anzureden, tat er es nicht. Marissa wusste auch, warum. Er sehnte sich nach einer Mutter, und diese Rolle erfüllte sie. Marissa erinnerte sich nur ungern daran, dass man sie während ihrer bisherigen Fahrt tatsächlich überall für Rileys Mutter gehalten hatte. Hinweise darauf, dass sie seine Halbschwester sei, hatten nichts genützt.
Riley unternahm nichts, um diesen Irrtum aufzuklären, denn sie stellte genau die Mutter dar, die er sich wünschte, was er häufig genug betonte. Daraus konnten die Leute nur schließen, dass Marissa ihn mit fünfzehn Jahren empfangen und mit sechzehn geboren hatte. Es kam einfach zu selten vor, dass ledige Halbschwestern die Erziehung eines wesentlich jüngeren Bruders übernahmen.
Marissa hockte sich hin und breitete die Karte auf dem ausgetrockneten, von gelben Blättern bedeckten Boden aus. Den Kühler konnte sie dafür nicht benutzen. Er war so heiß, dass man Spiegeleier darauf hätte braten können.
„Also hier sind wir“, stellte sie in einem Ton fest, der Sicherheit ausdrücken sollte. „‚Wungalla‘ ist eine große Rinderfarm und liegt etwa hundertfünfzig Kilometer nordwestlich von Ransom.“
„Warum haben sie der Stadt wohl diesen Namen gegeben?“, fragte Riley, der sich bemühte, Dusty nicht aus den Augen zu verlieren. „Bedeutet ‚ransom‘ nicht so viel wie ‚Lösegeld‘?“
„Gibt es eigentlich ein Wort, das du nicht kennst?“ Marissa staunte immer wieder, was Riley mit seinen sieben Jahren alles wusste. Sie war stolz auf ihren kleinen Bruder, von dessen Existenz sie lange nichts geahnt hatte. Weder von ihrer Tante Allison noch von ihrer Cousine Lucy hatten sie viel Zuwendung bekommen. Dafür hatte Riley sie vom ersten Tag an mit seiner Liebe überschüttet.
Jetzt lachte er schallend, begann dann aber heftig zu husten. „Daddy hat mir eine Menge beigebracht“, keuchte er.
Daddy! Rileys und Marissas gemeinsamer Vater. Einst ein erfolgreicher Anwalt, später ein unheilbarer Alkoholiker, der in einer Missionsstation irgendwo im Outback gestorben war. Wie hatten sie ihn geliebt! Fast anderthalb Jahre nach seinem Tod kam es immer wieder vor, dass Riley herzzerreißend um ihn weinte. Bei Marissa saßen die Tränen ebenso locker, doch sie verbarg sie vor Riley oder versuchte, sie ganz zu unterdrücken.
Riley gehörte zu den frühreifen Jungen und hatte sich seit dem Tag, als sie sich auf dem kahlen Flur der Missionsschule begegnet waren, eng an sie gebunden. Marissa war jetzt seine Familie. Er hatte sie erkannt, bevor noch das erste Wort gesprochen worden war, denn sie glichen beide ihrem Vater. Sie hatten dasselbe rabenschwarze Haar, dieselben lebhaften blauen Augen und dieselbe zarte Haut.
Während der ersten Monate hatte Marissa sich bemüht, Rileys Mutter ausfindig zu machen, doch alle Bemühungen waren umsonst gewesen. Man wusste nur, dass sie eine gebürtige Polynesierin war und Vater und Sohn kurz nach Rileys viertem Geburtstag verlassen hatte. Michael Devlin war bald danach gestorben und hatte Riley als Waise zurückgelassen – bis Marissa in sein Leben getreten war.
Die Erkenntnis, dass ihr charmanter und ungewöhnlich gut aussehender Vater noch einmal eine Beziehung eingegangen war, aus der ein Sohn stammte, hatte Marissa ungeheuer überrascht, denn Michael Devlins beruflicher und gesundheitlicher Abstieg war unaufhaltsam gewesen.
„Selbstmord! Es musste ja so kommen!“, hatte Onkel Bryan verzweifelt ausgerufen, als Pastor McCauley ihm den Tod des jüngeren Bruders mitteilte und dabei auch den kleinen Sohn erwähnte, den er und seine Frau in ihre Obhut genommen hatten.
„Wie feige von ihm!“ Tante Allison hatte wie üblich kein Blatt vor den Mund genommen. Nur zu gern suchte sie bei anderen Schwächen, um sie dann dafür zu kritisieren. Sich selbst hielt sie für fehlerfrei. „Michael hatte die besten Chancen und hat alle vertan. Der
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