Im Morgengrauen
… seit das mit Antoine lief.
Tief in meinem Inneren hatte ich immer gespürt, dass Manuel etwas für mich empfand. Wahrscheinlich wollte ich ihn gerade aus diesem Grund meiden. So konnte ich meine eigenen Gefühle ihm gegenüber besser unterdrücken. Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir: Es war mehr als nur Freundschaft. Ich hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Etwa deshalb, weil er zwei Jahre jünger war als ich? Oder war ich nur verwirrt, weil ich ihn jahrelang wie einen Bruder betrachtet hatte? Schließlich waren wir praktisch miteinander groß geworden. Wie auch immer: Ich hatte etwas kaputtgemacht. Und was tat Manuel? Er war für mich da – auch jetzt.
Beim Näherkommen hörte ich das vertraute Gestampfe. Aquila musste meine Stimme gehört haben. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen. Sie verdankte den Namen ihrer Geschmeidigkeit beim Galoppieren. Manchmal hatte man den Eindruck, sie würde den Boden nicht berühren, als ob sie Flügel hätte. Sie war Mamas Stute gewesen. Nachdem diese von uns gegangen war, konnte sie zunächst nur Manuels Mutter reiten. Ich hatte Monate gebraucht, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Nun hatte sie mich völlig akzeptiert.
Ihre Unruhe wuchs, als ich mich näherte. Leise sprach ich sie an, um sie zu besänftigen. Ihre Nüstern erbebten, als sie versuchte, mir die Leckerei aus der Hand abzuluchsen. Ich öffnete meine Faust, damit sie den Apfel nehmen konnte. Nachdem sie ihn genüsslich gefressen hatte, holte ich sie aus der Box, um sie zu satteln. Das hasste sie! Meine Mutter hatte sie stets ohne Sattel geritten. Sie war sogar in der Lage gewesen, beim Traben auf ihrem Rücken zu stehen. Außer im Zirkus hatte ich noch nie jemanden gesehen, der sich mit einer solchen Leichtigkeit auf einem Pferd bewegen konnte. Wenn sie galoppierten, waren Reiterin und Stute eins gewesen. Mein Vater hatte Mama zärtlich seine Amazone genannt. Als ich noch klein gewesen war, hatte sie versucht, mir das Voltigieren beizubringen. Nach einem Sturz wollte ich nie wieder ohne Sattel reiten. Nun war Anna, Manuels Mutter, die Einzige, die sich hin und wieder ohne Sattel auf Aquila traute.
Wir hatten den Waldrand beim Traben noch nicht erreicht, da spürte ich schon, wie es in ihr kribbelte. Widerwillig ließ sie sich von mir bändigen. Ein zu hohes Tempo am Waldrand hätte fatale Folgen haben können, wenn jemand unerwartet auf dem Weg erschienen wäre. Nur noch fünfzig Meter und sie würde ihrem Drang nachgeben können. Die Geschwindigkeit war für mein Pferd anscheinend genauso berauschend wie für mich. Als wir endlich in einen Galopp fielen, pfiff mir der Wind übers Gesicht – und den Kummer aus meinem Kopf. Nach einer Weile parierte ich sie mit tiefem Bedauern durch. Zeit zurückzukehren. Ich konnte sie schließlich nicht ewig galoppieren lassen, nur um meinen Schmerz loszuwerden.
Beim Pferdestall fühlte ich mich beobachtet. Ein verstohlener Blick zu Manuels Fenster bestätigte mir, dass ich richtig lag: Er winkte mir zu. Ich stellte mich jedoch blind und widmete meine ganze Aufmerksamkeit meiner Stute.
Innerlich war ich hin und her gerissen: Sollte ich mich ihm anvertrauen oder ihn meiden? Bei Gott, wie gerne hätte ich mit ihm gesprochen. Früher hatte ich ihm immer alles erzählt. Andererseits wollte ich ihm aus dem Weg gehen, denn ich kam mir wie eine Verräterin vor. Schließlich hatte ich ihn ein Jahr zuvor für die Freunde sitzen lassen, deren Verlust ich nun beklagte. Ich beeilte mich, Aquila von ihrem Sattel zu befreien und sie zu striegeln.
Zu Hause angekommen, ging ich duschen, und beschloss, anschließend das Essen vorzubereiten. So konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Mein Vater würde sich freuen, und ich wäre bis zur Rückkehr meiner kleinen Schwester beschäftigt. Mit allem, was mir durch den Kopf ging, wäre ich sowieso nicht in der Lage, mich meinen Hausaufgaben zu widmen. Da die Sommerferien näher rückten, spielte das auch keine Rolle mehr. Nach einem Blick in den Kühlschrank entschied ich mich für Toasts Hawaii mit Salat. So wie ich meine Schwester kannte, würde sie hungrig vom Tanzunterricht zurückkommen.
Schade, dass Mama ihre Fortschritte nicht miterleben konnte. Sie war so agil und graziös, dass sie manchmal den Eindruck erweckte, sie würde schweben. Ich fand sie einfach umwerfend, ein richtiges Naturtalent. Keine Zweifel – das hatte sie von ihrer Mutter. Eigentlich hätte man Marie das Voltigieren beibringen
Weitere Kostenlose Bücher