Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
fehlt. Die Aussagen sind nicht verwertbar.
Und schließlich der überzeugendste Punkt. Die Aussagen des Mädchens sind teilweise widersprüchlich, und die gesundheitliche Verfassung, in der sie gemacht wurden, war sicherlich nicht die beste. Und in der Kartei, in die man Khaleds Foto einsortiert hatte, war er der Einzige mit einer halbwegs hellen Hautfarbe. Alle anderen waren viel dunkler, einige sogar aus Zentralafrika – die kamen überhaupt nicht in Frage. Wie verlässlich ist denn eine solche Identifizierung?»
Cattaneo schnalzte mit der Zunge.
«Mir scheint das alles hieb- und stichfest zu sein», sagte er.
«Und das heißt?»
«Ich weiß nicht recht. Du bist zu dem alten Weisen gekommen, um dir Rat zu holen, aber mir scheint, du hast schon alle Argumente in der Hand.»
«Fachlich gesehen ja. Ich versuche nur herauszufinden, wie ich mich richtig verhalte. Du weißt so gut wie ich, in welchen Schlamassel ich mich begebe, wenn ich Khaleds Freispruch beantrage.»
Cattaneo lachte schrill auf.
«Oh, nicht auszudenken!»
«Eben. Außerdem gibt es Regeln.»
«Ja. Es geht dir also darum, wie du dich richtig verhältst. Interessant.» Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn und schwieg nachdenklich eine ganze Minute.
«Nun», sagte er dann. «Ich muss weit ausholen, Roberto. Wir haben ja schon oft ausführlich darüber gesprochen. Du glaubst, Recht und Gesetz seien eine zuverlässige Annäherung an die Gerechtigkeit.»
«Nein. Ich glaube, Recht und Gesetz sind die einzige Annäherung an die Gerechtigkeit, die wir haben. Ich räume durchaus ein, dass dem Gesetzgeber Fehler unterlaufen können, ich meine nur, dass wir im Chaos enden, wenn wir uns in der Suche nach der reinen Gerechtigkeit ergehen. Und jede Ordnung ist besser als Chaos.»
Cattaneo hob die Hände.
«Wie auch immer. Ich will dir nur sagen, dass für mich die Dinge anders liegen. Für mich sind Recht und Gesetz auf jeden Fall etwas anderes als Gerechtigkeit. Recht und Gesetz sind nicht das Licht, sondern die Luft einer Stadt: verschmutzt, zuweilen unerträglich, doch lebensnotwendig.»
«Das ist gar nicht so weit von dem entfernt, was ich meine.»
«Nein. Ich bin im Wesentlichen Idealist, und das sage ich mit allem mir zur Verfügung stehenden Realismus.»
«Schon gut, schon gut. Aber was würdest du an meiner Stelle tun?»
«Was ich tun würde? Ich weiß es nicht.» Er hustete und setzte sich auf dem Sofa zurecht. «Unter den jetzigen Umständen, wenn ich also nichts zu verlieren hätte, würde ich meinem Gewissen folgen. Und vielleicht auch dann, wenn ich alles zu verlieren hätte und zwanzig Jahre jünger wäre als du, würde ich so handeln. Doch in deinem Alter, keine Ahnung. Weißt du, auch als ich mich in der Universität ankettete, war ich mir nicht sicher, ob ich das Richtige tat. Ich glaubte fest daran, Gott bewahre. Aber wie schaffst du es, von etwas überzeugt zu sein, das dir ein für alle Mal die Karriere ruinieren kann und auch noch deine Familie in Schwierigkeiten bringt? Damals erkannte ich, dass es ein Unterschied ist, ob man unseren Beruf ausübt oder ihn in der ersten Person lebt. Ob man lehrt, was man weiß, oder es in die Praxis umsetzt. Und auch darin war ich mir nicht sicher. Kein Mensch kann sich je sicher sein. Deshalb gibt es Ideale. Deshalb brauchen wir Leitlinien, alte Lehrmeister und Leitfiguren – egal, ob sie real sind oder nicht. Denn irgendwo hat jeder gesunde Menschenverstand und jedes vernünftige Verhalten seine Grenzen, und wir sind berufen, eine Entscheidung zu treffen, ohne genügend Informationen zu haben, mit denen wir sie so treffen könnten, wie wir es gern tun würden. Ohne an die Konsequenzen zu denken.»
Doni dachte über diese Worte nach, dann wurde er plötzlich laut.
«Aber das ist doch nicht richtig! Herrgott noch mal, verstehst du denn nicht? Wenn ich mich weigere, die Berufung durchzuziehen, bin ich erledigt. Ich verliere alles. Ich bringe meine Frau und meine Tochter in Schwierigkeiten. Und das sollte ich für einen Tunesier tun, den ich noch nie im Leben gesehen habe und der sich das alles vielleicht bloß ausgedacht hat? Das ist doch nicht in Ordnung. Warum ich?» Er schaute auf. Es war, als wäre alles, was er sich noch nicht gesagt hatte, jeder Gedanke, den er in letzter Zeit gewälzt hatte, nun mit einem Mal aus ihm hervorgebrochen. «Warum ich? Wenn mich das zu einem besseren Menschen machen soll, also, du lieber Himmel, ich will gar kein besserer Mensch sein. Ich weiß nicht mal,
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