Im Namen der Gerechtigkeit - Roman
würde?
Er wusste, wie es ausgehen würde. Entrüstete Nebenkläger, gegen ihn gerichtete Blogs und Nachrichten. Eine Anzeige von den Eltern des Mädchens. Gesellschaftlicher Gesichtsverlust. Ein wütender Vorsitzender des Strafsenats. Eine Anhörung im Parlament …
Überall würde man ihn angreifen, in der Late Night Show Porta a Porta ebenso wie in der Repubblica . Die Leute würden auf die Barrikaden gehen, Mailand würde ihn fallenlassen und später begnadigen, ohne jemals wirklich zu vergessen, ganz wie es in Italien immer geschah.
Addio, Staatsanwaltschaft in der Provinz, addio, Seelenruhe, addio Claudia und Elisa. Wer weiß, was sie über ihn sagen würden, welches Erdbeben er in ihren Gemütern auslösen würde.
Vielleicht könnte er als Anwalt für Obdachlose noch einmal neu anfangen. Aber einem, der eine Sache aufgegeben hat, bringt man kein Vertrauen mehr entgegen, egal, um was es dabei ging. Außerdem konnte er sich in einer solchen Rolle auch gar nicht vorstellen, ohne Wohlstand, ohne das Leben, das er sich so mühsam und bis ins kleinste Detail zurechtgezimmert hatte.
Seine Gedankenkette brach ab, als ihm klar wurde, dass das Entsetzlichste etwas ganz anderes war. Die Vorstellung nämlich, dass auch Elena ihn vergessen würde, dass sie in neue Schlachten ziehen würde oder dass sie eine Familie gründen und vielleicht eine Egoistin werden würde, ein angepasster, glücklicher Mensch, wie es so viele gab.
Oder vielleicht auch nicht.
Vielleicht würde sie ihn noch einmal in die Via Padova mitnehmen. Dann wären sie wieder zusammen, um zu kämpfen und ein gemeinsames Bier zu trinken, und er hätte erneut das Gefühl, angespannt am Rand des Nichts zu stehen, am Abgrund einer Entscheidung, und nur eine fremde, junge Frau wäre da, um ihn an die Hand zu nehmen.
Er stellte sich vor, wie er das Plädoyer, das er vorbereitet hatte, vortragen würde, Satz für Satz. Khaleds Blick im Anklagekäfig, seine Augen. Ein Mann, den er nie kennengelernt hatte und der doch für immer mit ihm verbunden sein würde. Beide vereint in einer besonderen Loyalität: jeweils für ein Wohl, das über das eigene hinausging.
Doni stand auf. Er nahm Elisas Foto zur Hand, das im Wohnzimmer stand, aufgenommen unmittelbar nach ihrem Diplom, ihr Gesicht war frisch und lächelte, das noch lange, offene Haar fiel ihr über die Schultern. Er drückte seine Lippen auf das Glas und hinterließ einen kleinen Abdruck. Dann ging er ins Schlafzimmer zurück und betrachtete seine schlafende Frau. Er lächelte.
Schließlich nahm er seine Krawatte, suchte die Prozessakten zusammen und verließ das Haus.
Vor der Tür schlug ihm der anbrechende Tag entgegen und ließ ihn schaudern. Es war kalt und der Himmel grau. Die Lichter der Laternen ließen die Landschaft zu einem eintönigen Bild werden, zu einem Hintergrund von La Tour ohne eine Kerzenflamme, bis Doni bemerkte, dass die Flamme er selbst war; sie war das, was er in sich trug. Es gab da draußen keine anderen Feuer, die gesucht und bewahrt werden mussten.
Durch diese Erkenntnis wurde seine Überzeugung nicht stärker. Er fühlte sich nicht besser dadurch. Doch ihn durchzog von Kopf bis Fuß so etwas wie eine Befreiung, der Gedanke, dass er etwas tat, was keiner Erklärung bedurfte – was keiner Vergebung bedurfte.
Er tat den ersten Schritt auf dem Bürgersteig. Von seiner Wohnung waren es zu Fuß zwölf Minuten.
Vielleicht würden die Nägel für immer im Justizpalast bleiben. Er nicht.
Über den Autor/die Übersetzerin
Giorgio Fontana
Giorgio Fontana, 1981 geboren, studierte Philosophie in Mailand und arbeitet als Journalist und Buchautor. Im Namen der Gerechtigkeit wurde für acht Preise nominiert und 2012 mit dem Premio Racalmare-Leonardo Sciascia und dem Premio lo Straniero ausgezeichnet.
Karin Krieger
Karin Krieger studierte Romanistik und übersetzt aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Roberto Alajmo, Alessandro Baricco, Roberto Cotroneo, Claudio Magris, Margaret Mazzantini und Ugo Riccarelli. Sie ist Trägerin des Hieronymusrings 2011/2012.
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