Im Rachen des Alligators
Seine Beine bewegen sich.
Wie lange wird es noch dauern?
Als nächstes sieht man einen Flur. Einen leeren, weiß gestrichenen und gefliesten Flur und dann die Farbbalken.
Mir klebt Erdnussbutter am Gaumen. Ich spule zurück, gucke, spule wieder zurück, gucke. Ich suche nach einem Anhaltspunkt dafür, dass der Mann noch lebt. Wenn man lang genug guckt, sieht man alles.
Ich gucke, bis Madeleine nach Hause kommt. Sie lehnt am Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie spielt an dem Bernsteinanhänger ihrer Kette. Es ist Anfang August, und die Temperaturen bewegen sich seit drei Wochen nahe dreißig Grad. Madeleine sieht in der Hitze wie taubenetzt aus; sie ist sonnengebräunt und luftig gekleidet, und sie bereitet sich gerade darauf vor, die zweite Hälfte des Spielfilms zu drehen, an dem sie zurzeit arbeitet.
Der lebt noch, sagt sie. Er hat eine Alligatorenfarm in Louisiana, in einem Naturschutzgebiet.
Loyola, sagt sie.
Sie stößt sich mit der Schulter vom Türrahmen ab und geht in die Küche, und dann höre ich sie mit der Bratpfanne hantieren. Ich höre Schranktüren gehen, das Zischen von Öl, Gläserklirren. Wenn Madeleine Hunger hat, kocht sie auch um Mitternacht.
Sie kommt wieder heraus, schaut sich im Stehen mit mir die Filmaufnahmen an.
Loyola Soundso, sagt sie. Ich komm noch drauf. Netter Kerl.
Sie hat einen Wodka Tonic mit Eis in der Hand, fummelt mit dem Zeh das Riemchen ihrer einen Sandalette herunter und schleudert sie weg. Die andere noch am Fuß, kommt sie herübergehumpelt, lässt sich auf das Ledersofa sinken, schleudert auch die zweite Sandalette weg und zieht ihre Ringe ab. Große Silberringe mit Bernstein und Türkis, die auf der Glasplatte des Couchtischs klirren.
Er hat es überlebt, sagt sie. Loyola Rosewood.
Ihr neuer Film nimmt Madeleine völlig in Anspruch. Sie verhält sich wie jemand in einem Traum.
Ich spule ganz an den Anfang zurück. Der Mann stolziert wieder vor der Zuschauermenge auf und ab, er hat einen Waschbrettbauch, hält die Fäuste auf Hüfthöhe, ist äußerst muskulös. Er sieht stolz und sehr erschöpft aus. Da ist der silberne Ballon, der ein Loch in den Himmel brennt, der kinetische Glorienschein aus Sonnenlicht im Haar des Mädchens.
Ich hatte was mit dem Typ, sagte Madeleine. Ein Eiswürfel in ihrem Glas zerspringt knackend.
Mit dem Alligatortyp?
Wir hatten was miteinander.
Frank
Frank hat die Fenster offen, und der warme Abendwind fährt in die Handvoll Vergissmeinnicht, die in einem Einmachglas mit gelblichem Wasser auf dem Fensterbrett stehen. Ein paar Blütenblätter treiben auf dem Wasser wie winzige Boote auf einem ruhigen See. Das Glas und die eingetauchten Blumenstengel sind von silbernen Luftbläschen bedeckt. Neben dem Glas liegt eine Stubenfliege, bläulich schillernd, von Spinnfäden und Staub umkrustet. Die Fliege lag schon auf dem rissigen Fensterbrett, als Frank ein paar Monate vor Weihnachten eingezogen ist, zwei Tage vor seinem neunzehnten Geburtstag. Der Wind schlägt mit einem lauten Knall die Tür zu.
Frank verkauft schon seit April auf der George Street Hotdogs, doch er weiß, dass dieser Monat sein bester sein wird. Vier Wochen konstanter Umsätze liegen vor ihm, bis September, bei gutem Wetter sogar noch länger. Er wird jeden Abend arbeiten, bis die Kreuzfahrtsaison endet und die Studenten wieder an die Uni müssen.
Er hört, wie sich in der George Street eine Band einspielt. Er lebt ein paar Straßen vom Zentrum entfernt in einer Einzimmerwohnung, der billigsten Unterkunft, die er finden konnte. Unter ihm wohnt eine Rentnerin, eine ehemalige Avon-Beraterin, über ihm zwei russische Drogenhändler. Jedenfalls behauptet Carol, die Ex-Avon-Beraterin, es seien Drogenhändler.
Im dritten Stock hat früher ein Inuit gewohnt, aber der hat sich am zweiten Weihnachtsfeiertag erhängt. Sie wussten nicht einmal, wie er hieß, und Carol hat deshalb ein schlechtes Gewissen. Sie war es, die damals die Polizei rief, als ihr auffiel, dass der Inuit nicht mehr im Haus ein- und ausging.
Jetzt stellte Frank eine Tasche mit frischgewaschener Wäsche auf seinem Bett ab, öffnete den Reißverschluss und nahm den Stapel säuberlich gefalteter, gebügelter Hemden heraus. Es waren acht. Die Frau im Waschsalon in der Gower Street legte nach dem Bügeln immer weißes Seidenpapier in Franks Hemden, und es gefiel ihm, das leise Knistern zu hören, wenn er sich für den Abend fertigmachte. Er bezahlte extra fürs Bügeln, es war sein einziger
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