Im Reich des Wolfes
Bergpony. Es war ein schönes Tier, vierzehn Hand hoch, doch das Pferd des Südländers maß mindestens sechzehn Hand. Kasais Vetter Chulai hielt neben ihm. »Wollen wir ihn töten?« fragte er.
»Abwarten«, befahl Kasai und musterte den näher kommenden Reiter. Der Mann war ganz in Schwarz gekleidet. Über seine Schulter hatte er einen pelzgefütterten Umhang geschlungen. Sein Gesicht war von getrocknetem Blut verkrustet.
Der Reiter erblickte sie und lenkte sein Pferd auf die wartende Gruppe zu. Kasai konnte bei dem Mann keine Anzeichen von Furcht erkennen.
»Schönes Pferd«, sagte Kasai, als der Mann sein Tier zügelte.
»Besser als der Mann, den ich getötet habe, um es zu bekommen«, sagte der Reiter. Seine dunklen Augen richteten sich prüfend auf die Gruppe. Er wirkte amüsiert, und das ärgerte Kasai.
»Ein solches Pferd ist es wert, dafür zu töten«, sagte er mit Nachdruck, die Hand am Schwert.
»Allerdings«, stimmte der Reiter zu. »Aber die Frage, die ihr euch stellen müßt, lautet: Ist es auch wert, dafür zu sterben?«
»Wir sind fünf, du bist nur einer.«
»Falsch. Einer und einer. Du und ich. Denn wenn es losgeht, werde ich dich töten, ehe dein Herz auch nur einmal schlägt.« Die Worte wurden mit einer ruhigen Sicherheit ausgesprochen, die an Kasais Selbstvertrauen zerrte wie der Winterwind.
»Du tust meine Brüder so einfach ab?« fragte er in dem Versuch, ihre Überzahl noch einmal hervorzuheben.
Der Reiter lachte und ließ seinen Blick über die anderen schweifen. »Ich tue niemals einen Nadir so einfach ab. Ich habe schon gegen zu viele gekämpft. Es sieht so aus, als hättest du zwei Möglichkeiten: Entweder du kämpfst mit mir, oder wir reiten in euer Lager und essen.«
»Laß uns ihn töten«, sagte Chulai in der Sprache der Nadir.
»Das würde deine letzte Tat auf Erden sein, Vogelhirn«, sagte der Reiter in perfektem Nadir.
Chulai wollte sein Schwert ziehen, doch Kasai gebot ihm Einhalt. »Wieso sprichst du unsere Sprache?« erkundigte er sich.
»Essen wir oder kämpfen wir?« entgegnete der Mann.
»Wir essen. Wir bieten dir die Gastfreundschaft des Zeltes. Also, wieso sprichst du unsere Sprache?«
»Ich bin viele Jahre lang unter den Nadir gewandert, sowohl als Freund wie auch als Feind. Mein Name ist Waylander, aber bei dem Zeltvolk habe ich noch andere Namen.«
Kasai nickte. »Ich habe von dir gehört, Ochsenschädel - du bist ein mächtiger Krieger. Folge mir, und du bekommst das Mahl, das du willst.« Kasai riß sein Pony herum und galoppierte nach Norden davon. Chulai warf dem Drenai einen mörderischen Blick zu und folgte ihm.
Zwei Stunden später saßen sie um ein Kohlebecken in einem großen Zelt aus Ziegenleder. Waylander saß mit verschränkten Beinen auf einem Teppich, Kasai vor ihm. Beide Männer hatten aus einer gemeinsamen Schüssel mit eingedickter Milch gegessen und sich einen irdenen Becher mit starkem Schnaps geteilt.
»Was führt dich in die Steppe, Ochsenschädel?«
»Ich suche Kesa Khan von den Wölfen.«
Kasai nickte. »Sein Tod ist längst überfällig.«
Waylander lachte leise. »Ich bin nicht hier, um ihn zu töten. Ich will ihm helfen, zu überleben.«
»Das kann nicht wahr sein!«
»Ich versichere dir, daß es so ist. Meine Tochter und meine Freunde sind bei ihm - hoffe ich jedenfalls.«
Kasai war erstaunt. »Warum? Was bedeuten die Wölfe dir? Wir erzählen noch immer von Kesa Khans Magie und von den Werun-geheuern, die er aussandte, dich zu töten. Warum willst du ausgerechnet ihm helfen?«
»Der Feind meines Feindes ist mein Freund«, antwortete Waylander. »Es gibt einen Mann, der dem Kaiser dient. Er ist der Feind, dessen Tod ich wünsche.«
»Zhu Chao! Mögen die Götter seine Seele verfluchen, bis die Sterne verlöschen! Ja, ein guter Feind, der Mann. Aber du kommst zu spät, um den Wölfen zu helfen. Die Gothir haben bereits mit dem Angriff auf die Bergfestung begonnen. Es gibt keinen Weg zu ihnen.«
»Ich werde einen Weg finden.«
Kasai nickte und nahm den letzten Schluck aus dem Becher; dann füllte er ihn erneut aus dem Krug, der neben ihm stand. Er bot ihn Waylander an, der vorsichtig nippte. »Mein Volk sind die Langen Speere. Wir sind Feinde der Wölfe. Ein Leben lang - und noch länger. Aber ich möchte nicht, daß die Gothir sie vernichten. Ich möchte der Mann sein, der Anshi Chen sein Messer in den Bauch rammt. Ich möchte Belash den Kopf abhacken. Ich möchte Kesa Khan das Herz herausreißen. Ein solches
Weitere Kostenlose Bücher