Im Reich des Wolfes
mich nicht berühren«, sagte er leise. »Der Mann für dich ist da drin. Jung. Gutaussehend. Ohne Narben.«
»Ich wähle selbst einen Mann, wenn die Zeit kommt«, erwiderte Miriel. »Ich bin nicht irgendeine Drenai-Adelige, deren Heirat ein
Bündnis zwischen verfeindeten Parteien bedeutet. Und ich muß mich auch nicht um meine Aussteuer sorgen. Ich werde einen Mann heiraten, den ich mag, den ich respektiere.«
»Du hast die Liebe vergessen«, meinte er.
»Davon habe ich viel reden hören, Angel, aber ich weiß nicht, was das ist. Ich liebe meinen Vater. Ich liebe dich. Ich liebte meine Schwester und meine Mutter. Ein Wort. Unterschiedliche Gefühle. Oder sprechen wir von Lust?«
»Zum Teil«, gab er zu. »Und daran ist nichts Unrechtes, wenn es auch Leute gibt, die uns etwas anderes glauben machen wollen. Aber es ist mehr als das. Ich hatte einmal eine Affäre mit einer dunkelhaarigen Frau. Unglaublich. Im Bett konnte sie eine größere Leidenschaft in mir entfachen als eine meiner Ehefrauen. Aber ich blieb nicht bei ihr. Verstehst du, ich liebte sie nicht. Ich verehrte sie. Aber ich liebte sie nicht.«
»Da ist das Wort schon wieder!« tadelte Miriel.
Er kicherte leise. »Ich weiß. Es ist einfach eine knappe Form, jemanden zu beschreiben, der Freund ist, Bettgefährte, Schwester, ja, manchmal sogar Mutter, jemand, der deine Leidenschaft, deine Bewunderung und deinen Respekt weckt. Jemand, der auch dann fest an deiner Seite steht, wenn sich die ganze Welt gegen dich verschworen hat. Suche nach so jemandem, Miriel.« Er ließ ihre Hand los und wandte den Blick ab.
Sie beugte sich vor. »Was ist mit dir, Angel? Würdest du Freund, Liebhaber, Bruder und Vater sein?«
Er wandte sein vernarbtes Gesicht zu. »Ja, das würde ich.« Er zögerte, und sie spürte seine Unentschlossenheit. Schließlich lächelte er, nahm ihre Hand und küßte sie. »Meine Stiefel sind älter als du, Miriel. Vielleicht glaubst du, es macht keinen Unterschied, aber das stimmt nicht. Du brauchst einen Mann, der sich mit dir entwickeln kann, keinen, der neben dir senil wird.« Er holte tief Luft. »Wenn es auch schwerfällt, das zuzugeben.«
»Du bist nicht alt«, erwiderte sie.
»Gefällt dir Senta denn nicht?« entgegnete er.
Sie wandte den Blick ab. »Ich finde ihn ... aufregend ... beängstigend.«
»Das ist gut«, sagte er. »So sollte das Leben sein. Ich bin wie ein alter Lehnstuhl. Bequem. Ein Mädchen wie du braucht mehr als das. Gib ihm eine Chance. In ihm steckt viel Gutes.«
»Warum hast du ihn so gern?«
Er grinste. »Ich kannte seine Mutter«, antwortete er. »Vor langer Zeit. Bevor er geboren wurde.«
»Heißt das ...?«
»Ich habe keine Ahnung, aber es könnte sein. Auf jeden Fall schlägt er nicht nach dem Ehemann. Aber das bleibt unter uns! Verstanden?«
»Und trotzdem hättest du damals bei der Hütte gegen ihn gekämpft?«
Er nickte ernst. »Ich hätte ihn nicht besiegt. Er ist sehr gut. Der beste, den ich je gesehen habe.«
Plötzlich lachte Miriel.
»Was ist denn so lustig?« wollte Angel wissen.
»Er wollte dich gar nicht töten. Das habe ich in seinen Gedanken gelesen. Er wollte dich entwaffnen oder verwunden.«
»Das wäre ein schwerer Fehler gewesen.«
Sie blickte ihm in die Augen, und ihr Lächeln verblaßte. »Aber du hättest deinen eigenen Sohn töten können!«
»Ich weiß. Nicht sehr erhebend, nicht wahr? Aber ich bin ein Krieger, Miriel, und wenn die Schwerter gezogen werden, gibt es keine Gefühle. Nur Überleben oder Tod.« Er warf einen Blick auf den Nadirjungen, der an einen Felsen gelehnt schlief, den Kopf auf die dünnen Ärmchen gelehnt, die Knie angezogen. Angel stand lautlos auf, ging zu dem Kleinen und deckte ihn mit seinem Umhang zu. Dann kehrte er zu Miriel zurück. »Was hat der alte Mann vor?« fragte er.
»Ich weiß nicht, aber wir werden umziehen - morgen. In eine alte Festung in den Bergen.«
»Gute Neuigkeiten. Wir können hier nicht viel länger ausharren. Du solltest etwas schlafen.«
»Ich kann nicht. Er wird mich bald brauchen.«
»Wofür?«
»Für die wandelnden Toten«, antwortete sie.
Kesa Khan saß am Feuer. Sein alter Körper zitterte, wenn der Nachtwind die Flammen flackern ließ. Er war inzwischen jenseits aller Müdigkeit. Eine tödliche Erschöpfung legte sich über ihn. Alles war so komplex - so viele Schicksalslinien, die sich trafen. Warum, fragte
er sich müßig, war dies nicht geschehen, als er noch jung und im Vollbesitz seiner Kräfte war? Warum
Weitere Kostenlose Bücher