Im Ruecken steckt das Messer - Geschichten aus der Gerichtsmedizin
herbeigeschmuggelt worden sei. Derart raffiniert ausgeklügelt, wurde den Juden nunmehr zusätzlich das Delikt des Leichenschmuggels in die Schuhe geschoben. Die nichts ahnenden Flößer wurden schleunigst verhaftet.
Am 19. Juni sandte Bary die gerichtsmedizinisch völlig unerfahrenen Wundärzte Dr. Trajtler und Dr. Kiss sowie den Kandidaten der Medizin Horvath an die Fundstelle. Sie erhielten den Auftrag festzustellen, ob die Tote überhaupt ein Mädchen von vierzehn Jahren sei und ob sie seit dem Tage von Esthers Verschwinden, also seit dem 1. April, im Wasser gelegen haben könnte.
Trajtler und Kiss waren Landpraktiker, die einige wenige Male in ihrem Leben eine Autopsie durchgeführt hatten. Und Horvath hatte noch nicht einmal seine Ausbildung beendet. Am 20. Juni legten sie jedoch dem Untersuchungsrichter ein Protokoll vor. Es enthielt in der Hauptsache folgende Feststellungen:
1. Bei der Toten handle es sich mit Bestimmtheit »um ein Individuum, welches wenigstens das achtzehnte, wahrscheinlich aber das zwanzigste Lebensjahr erreicht hat«. Dies sei durch die »allgemeine Entwicklung des Körpers« bewiesen, »durch den Zustand der Zähne und die Tatsache, dass die Stirnnaht des Stirnbeines verwachsen sei«.
2. Die Geschlechtsteile der Toten seien so sehr erweitert, dass sie sich sehr häufig mit Männern abgegeben haben müsse.
3. Die »Gefundene « könne höchstens zehn Tage tot sein. Ihre Haut sei weiß und zeige keine Spur von Fäulnis. Die Eingeweide seien gut erhalten.
4. Das Herz und die Venen der Toten seien völlig blutleer. Sie sei an einem Blutverlust gestorben.
5. Die gesamte Haut sei sehr zart, insbesondere die Haut der Hände und der Füße. Die Nägel seien sehr gepflegt. Die Tote sei niemals barfuß gegangen, vielmehr seien ihre Füße stets mit Schuhen bekleidet gewesen, und sie habe zweifellos einem Stande angehört, der keinerlei schwere Arbeit verrichtete.
Keine einzige dieser Feststellungen traf auf Esther Solymosi zu. Sie war 14 Jahre alt gewesen, hatte an keiner Blutarmut gelitten, noch keinen Umgang mit Männern gehabt, eine wettergebräunte Haut und arbeitsgewohnte Hände besessen und war immer barfuß gegangen. Außerdem war sie nicht seit zehn Tagen, sondern seit mehr als zweieinhalb Monaten verschwunden gewesen.
Bary sah sich in seinem Tun bestätigt. Die dilettierenden Landärzte aber hatten schwer wiegende Fehler in ihrer Beurteilung
gemacht. Es war ihnen nämlich nicht geläufig, dass bei abgeschwemmter Oberhaut die darunter befindliche Lederhaut frei liegt und Blut heraussickert, das weggespült wird. Auf diese Weise entsteht eine »Blutarmut« und vor allem erhält die ausgeschwemmte Haut ein frisches, rosiges Aussehen. Die Ärzte hielten die feine zarte Haut der Hände, Füße und Fußsohlen wie auch die gepflegt anmutenden Fingernägel, die nichts anderes darstellten als das freigelegte Nagelbett, nachdem die Nägel selbst, einem Handschuh gleich, abgestreift worden waren, offensichtlich für die Eigenschaften einer Dame gehobenen Kreises und schlossen Esthers Identität aus. Zu guter Letzt war ihnen ebenso wenig bekannt, dass die Scheide durch Schrumpfung und Erschlaffung des Gewebes im kalten Wasser weit werden kann, weshalb sie Esthers Leiche als diejenige einer Frau mit reichlich sexueller Erfahrung einschätzten.
Die fachlichen Mängel der Mediziner schufen aber noch weitere folgenschwere Unklarheiten. Da die Leiche ihrer Kopf- und Genitalbehaarung beraubt war, nahm man an, es handle sich wohl nicht um Esther, dafür aber um eine verheiratete jüdische Frau. Für diese Annahme gab die ostjüdisch-orthodoxe Sitte Anlass, nach welcher die verheiratete Frau sich nicht mehr barköpfig zeigen darf. Ihr Kopf wird nach der Hochzeit kahl geschoren, dafür trägt sie von nun an recht gefällig frisierte Perücken. Die Ärzte nahmen keine Unterscheidung dahingehend vor, ob die Genitalbehaarung abrasiert oder abgeschwemmt worden war oder ob sie wegen der noch nicht eingetretenen Geschlechtsreife überhaupt gefehlt hatte.
Trotz all dieser Ungereimtheiten kam es gegen ein Dutzend Juden zur Gerichtsverhandlung wegen Mordes, Beihilfe zum Mord und Unterschiebung einer Leiche. Es wurde ein Sensationsprozess. Der Verteidiger Karl Eötvös, einer der angesehensten Rechtsanwälte Ungarns, legte ein Gutachten des Wiener Universitätsprofessors für Gerichtliche Medizin, Eduard Hofmann
vor, in welchem Punkt für Punkt und wissenschaftlich untermauert alle falschen Behauptungen
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