Im Schatten des Kreml
Gesicht fühlt sich an wie in Säure gebadet. Die Feuchtigkeit auf meiner Stirn entpuppt sich als Blut, das auf meinen Fingerspitzen aussieht wie Schokoladensirup. Mein Shirt und die Hose sind an den Stellen verbrannt, wo sie nicht geschützt waren. Das angesengte Fleisch an meinen Armen und Beinen schmerzt. Es kostet mich große Mühe, aufzustehen.
»Was ist passiert?«, frage ich Barokov.
»Fünfzehn Minuten nachdem Sie weg waren, gab es eine zweite Explosion im Gebäude. Wir dachten, alle seien tot. Ihre Männer stürmten hinein und fanden alle zehn Geiseln, lebend. Sie waren ins Erdgeschoss gebracht worden, auf der Ostseite. Sie sagen, der Terrorist, der sie festgehalten hat, sei nach der zweiten Explosion verschwunden. Drei Ihrer Männer haben Sie geholt, nachdem sie die Geiseln in Sicherheit gebracht hatten. Die Vympel-Einheit hat Körperteile von zwei toten Terroristen gefunden.«
Beunruhigende Fragen schießen mir durch den Kopf. Warum haben sich die Terroristen die Mühe gemacht, die Geiseln aus der Gefahrenzone zu bringen? Wenn ein dritter Terrorist die Geiseln bewacht hat, wie viele waren dann noch da? Und woher wussten sie, wo sie auf mich warten mussten?
Ich halte es auf der Bahre nicht mehr aus und marschiere los zum improvisierten Kommandoposten. Kein Schlurfen, kein Hinken, kein Zeichen von Schwäche außer einem ganz leichten Schlingern im Bewegungsablauf, das von der Feder in meiner Prothese kommt. Der Inspektor joggt neben mir her, um mitzuhalten, und schlängelt sich vorbei an Rettungsarbeitern und Soldaten, die inzwischen überall sind. Mit leuchtenden Augen und einem breiten Lächeln klopft er mir auf die Schulter wie einem alten Freund. »Sie sind ein Held!« Die Stimmen aus der vorbeiziehenden Menschenmenge sind offenbar derselben Meinung, aber sie dringen kaum in mein Bewusstsein vor.
Als wir den Kommandoposten erreichen, gehe ich hinein und schließe die Tür vor meinen Bewunderern. Den Mantel ziehe ich wieder an. Die Sachen, die ich ausgezogen hatte, wickle ich in die Uniform und werfe mir das Bündel über die Schulter. Dann fällt mein Blick auf den vergessenen FSB-Offizier. Er hat sich zusammengerollt wie ein Kind, sein Gesicht hebt sich gespenstisch bleich von dem blutdurchtränkten Tuch ab, mit dem er notdürftig verbunden ist. Ich frage mich, warum sein Leutnant ihn so liegen gelassen hat, aber dann schiebe ich die Frage beiseite und versuche, mich zu sammeln.
Wir sind mitten in der Stadt, nicht wie damals in den tiefsten Bergen, aber der Anschlag weist vertraute Merkmale auf. Während der Zeit, als ich in seiner Schlammgrube saß, redete der tschetschenische Rebell Abreg gern über alles Mögliche mit mir – Philosophie, Religion, Weltpolitik – ; daher weiß ich, wie er tickt. Er kennt den psychologischen Wert ziviler Angriffsziele, und er würde argumentieren, dass ein Schlag wie dieser eine gerechtfertigte Reaktion auf die Verwüstung in Tschetschenien ist. Aber zu vieles ergibt keinen Sinn. Warum dieses Gebäude? Warum die Bomben am frühen Abend zünden, eine Uhrzeit, die in einem Bürogebäude eine geringe Opferzahl bedeutet? Warum die Geiseln schützen?
Inspektor Barokov und die anderen warten noch auf mich, als ich wieder rauskomme, wahrscheinlich um mir weiter ungerechtfertigte Glückwünsche auszusprechen.
»Was ist mit der Frau – der Geisel?«
Sie wechseln beunruhigte Blicke. Das Gesicht des Inspektors scheint noch mehr zu erröten, während er sich förmlich windet. Er ist klein und rundlich, doch jetzt versucht er, sich so weit es geht zu strecken. »Wir wissen es nicht. Sie und der FSB-Leutnant sind direkt, nachdem Sie gegangen sind, verschwunden.«
»Wer ist sie?«
Barokov sieht sich vergeblich nach Unterstützung um, dann holt er tief Luft. »Es geschah alles sehr schnell. Sie sprach Englisch und nur sehr wenig Russisch. Der Einzige, mit dem sie gesprochen hat, war der FSB-Mann. Der, den Sie ohnmächtig geschlagen haben.« Einen Moment lang steht sein Mund halb offen. »Ich bringe ihn jetzt zur Triage, aber fürs Erste werden wir keine Informationen aus ihm herausbekommen.«
»Die Geisel – hat sie für AMERCO gearbeitet?«
»Das hat sie zumindest behauptet.«
»Was ist passiert, nachdem ich die Kommandozentrale verlassen habe?«
»Nichts. Wir haben gewartet.«
»Hat irgendjemand darüber gesprochen, wie ich in das Gebäude kommen wollte?«
Ein Schatten wandert über sein Gesicht. »Wir haben uns die Pläne angesehen und uns ein paar Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher